Ein Klassiker der japanischen und Weltliteratur: das "Kopfkissenbuch" vonHofdame Sei Shōnagon.

Buchtipp: „Kopfkissenbuch“ – Sei Shōnagon

Das Buch wurde mir freundlicherweise vom Manesse Verlag zur Verfügung gestellt.

Literaturkritiker Denis Scheck hat ihm gerade einen Platz in seinem Kanon der 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur* eingeräumt: dem sogenannten „Kopfkissenbuch“ der Hofdame Sei Shōnagon, die vor 1000 Jahren während der Heian-Periode der jungen Kaiserin am Hof in Kyōto diente. Jene Hofdame hatte eine spitze Zunge und ebenso Talent, ihre Gedanken zu Papier zu bringen. Auf ein Bündel edles Papier, um genau zu sein, das sie in ihrem Kopfkissen aus Porzellan aufbewahrte und welches dem Werk seinen Namen gibt (eine Art zu schlafen wie sie auch Geishas pflegen, da durch das erhöhte, feste Kissen die kunstvolle Frisur über Nacht erhalten bleibt).

Der Manesse Verlage hat dieses wichtige Werk der japanischen Literatur in der Reihe „Manesse Bibliothek“ in einer wunderschönen, sehr handlichen Ausgabe neu aufgelegt. Entscheidend dabei ist die neue, erstmals vollständig aus dem Japanischen angefertigte und kommentierte Übersetzung von Michael Stein.

Das „Kopfkissenbuch“ von Sei Shōnagon

Die Ausgabe vom Manesse Verlag ist handlich, kommt mit einem schönen Schutzumschlag und Innenseiten mit Pflaumenmuster.
Die Ausgabe vom Manesse Verlag ist handlich, kommt mit einem schönen Schutzumschlag und Innenseiten mit Pflaumenmuster.

1000 Jahre liegen zwischen dem Zeitpunkt der Aufzeichnungen des Kopfkissenbuchs und heute. Die Welt war eine völlig andere, die Kultur am japanischen Kaiserhof könnte nicht weiter weg sein von unserem Alltag. Und doch hat sich im Grunde genommen nichts verändert. Zumindest was das Zwischenmenschliche angeht. Es wird gelästert wie gelobt, angehimmelt wie verhöhnt, geliebt wie verachtet.

Die Dame Sei Shōnagon (so ihr Name bei Hof, ihr tatsächlicher Name ist nicht bekannt), Tochter eines bekannten Dichters, schafft es an den Kaiserhof und nach ersten Startschwierigkeiten und manchem Fettnäpfchen, von dem sie im Nachhinein frei erzählt, wird sie zum persönlichen Liebling der jungen Kaiserin. Es ist eine kokette Beziehung voller Wortspiele und gegenseitigem Necken. Briefchen werden hin und her geschickt. Befindet sich eine nicht in der Nähe der anderen, wird sie vermisst.

Es ist eine friedliche Zeit in Japan und lapidar gesagt gab es am Hof nicht viel zu tun außer Gedichtwettbewerbe zu veranstalten und von der aktuellen Mode zu schwärmen. Nebenher herrschte ein reges Kommen und Gehen der Männer in den Frauengemächern.

Weiß man die Zeichen zu deuten (was dank dem ausführlichen Nachwort und den Kommentaren des Übersetzers gut gelingt), sieht man jedoch die nicht ganz so rosige und friedliche Zukunft kommen. Die Kaiserin wird Opfer eines politischen Machtkampfs, in ihrer Position degradiert und stirbt mit gerade einmal 24 Jahren. Spätere Teile von Shōnagons Aufzeichnungen blicken auf die gemeinsame Zeit zurück und enthalten einen bittersüßen Unterton.

Ein Beispiel für die diversen Listen im "Kopfkissenbuch".
Ein Beispiel für die diversen Listen im „Kopfkissenbuch“.

Ergänzt werden die Erzählungen aus dem Alltagsleben am Kaiserhof durch Listen, Listen, Listen. Manche davon für den aktuellen westlichen Leser eher uninteressant wie Kräuter, Gräser und Bäume, andere hingegen wie die Auflistung „Worüber ich mich totärgern könnte“ brachten mich immer wieder zum Schmunzeln. Es hat eben auch vor 1000 Jahren schon genervt, wenn man zu Beginn einer Nährarbeit einen Faden durch den Stoff zieht und vergessen hat, einen Knoten zu machen. Oder wenn man die falschen Stoffseiten aufeinander näht. Ganz zu schweigen davon, wenn man gerade einschlafen möchte und einem dann eine Mücke um den Kopf kreist.

Der erste Satz

„Im Frühling liebe ich die Morgendämmerung, wenn das Licht allmälich wiederkehrt, die Umrisse der Berge sich schwach vor dem hellen Himmel abzeichnen und schmale, rosa angehauchte Wolkenstreifen über sie hinwegziehen..“ (Shōnagon, S. 5, Manesse, 2019)

Meine Meinung

Vor dem Lesen hatte ich Bedenken. Würde ich mich wirklich in die Welt von vor 1000 Jahren einfinden, mich mit den Personen aus der Zeit identifizieren können? Würde das Buch nicht unendlich fern und verstaubt wirken?

Kaum hatte ich angefangen zu lesen, waren meine Bedenken sofort vergessen. Sei Shōnagon erzählt so erfrischend geradeheraus, nimmt kein Blatt vor den Mund, was die Fehltritte der anderen oder auch ihre eigenen angeht, dass ich sofort eine Verbindung zu ihr aufbauen konnte.

Da dass Buch kein Roman ist, sondern aus Tagebucherzählungen entstand, ist es nicht im klassischen Sinn ein spannender Pageturner. Für mich war es eine angenehme Badewannen- und zu-Bett-geh-Lektüre, die ich immer gern aufgegriffen habe, sobald ich das Bedürfnis hatte, mich an den Kaiserhof der Heian-Zeit zu transportieren.

Die vielen Fußnoten waren für mich zunächst abschreckend, sind aber während dem Lesen ungemein hilfreich und ich hatte immer das Bedürfnis nach noch mehr, mehr, mehr Info über diese spannende Kultur. Völlig fasziniert war ich vom ausgeprägten Wissen der Hofdamen, allen voran der Autorin. Hinter fast jedem Ausdruck, jeder Pflanze, jedem Ort verbirgt sich eine Anspielung an klassische Literatur beziehungsweise Lyrik aus Japan und vor allem China. Sei Shōnagon kannte alles und wusste immer eine geistreiche Antwort. Die Übersetzung muss ein Mammutwerk gewesen sein.

861 Fußnoten helfen dabei, das "Kopfkissenbuch" besser zu verstehen.
861 Fußnoten helfen dabei, das „Kopfkissenbuch“ besser zu verstehen.

Zu den Listen hatte ich ein zweigespaltenes Verhältnis. Viele waren reine Aufzählungen von Gewächsen oder Gewässern und erschienen auf den ersten Blick langweilig. Beachtet man jedoch die Kommentare Michael Steins wird klar, dass auch hier fast alles einen tieferen Sinn hatte, als es heute auf den ersten Blick erscheint. Ein zeitgenössischer Leser von ähnlichem Rang wie Shōnagon hatte hier sicher seine Freude, für mich waren diese Teile harte Arbeit.

Umso leichter fließt die Lektüre dahin, wenn von Festen und Liebhabern erzählt wird. Man muss immer in Hinterkopf behalten, dass dies ein Japan ist, dass (noch) keinen christlichen Moralvorstellungen unterworfen ist (denen wir zum Beispiel verdanken, dass mittlerweile in japanischen Onsen fast ausschließlich nach Geschlechtern getrennt gebadet wird). Tatsächlich war Sei Shōnagon bereits geschieden und begegnet ihrem Ex-Mann immer wieder bei Hofe. Ein Thema, mit dem sehr locker und voller Humor umgegangen wird (sie vergrault ihn gern mit Gedichten).

Schockierend sind die Stellen, an denen deutlich wird, welchen Stellenwert das gemeine Volk in den Augen der Höflinge hatte. Überhaupt keinen! Da möchte man als Leser Sei Shōnagon gelegentlich packen und schütteln. „Sie hin, das sind die Menschen auf deren Schultern du den Tag damit zubringen kannst über Kimono-Farbkombinationen nachzusinnen.“ Dennoch ist es, was es ist: ein realistisches Dokument seiner Zeit.

Das „Kopfkissenbuch“ hat einen festen Platz in meinem Regal bekommen, denn Shōnagons Welt ist eine, die ich auch in Zukunft wieder besuchen möchte.

Mit Denis Scheck begann diese Rezension und mit ihm möchte ich enden:
„Niemand weiß, was aus Sei Shōnagon geworden ist. Aber jeder Leser des Kopfkissenbuchs weiß, wer Sei Shōnagon gewesen ist.“ (Scheck, Piper Verlag, 2019)

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