Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit der japanischen Fremdenverkehrzentrale, die mir den Aufenthalt bei Picchio in Karuizawa inklusive einer Flughörnchen-Beobachtungstour ermöglicht hat. Tausend Dank für dieses einmalige Erlebnis.
Ich hatte mir ein betäubtes Tier immer ganz anders vorgestellt: ruhig schlafend, wie bewusstlos, ohne Regung. Stattdessen knurrt und zuckt der kleine Schwarzbär am Boden vor mir als hätte er einen schlimmen Albtraum. Das was der einjährige Petz da gerade erlebt, muss sich auch wie ein solcher anfühlen, denn er weiß noch nicht, dass ihn die fremden Menschen, die ihm gerade Blut abnehmen und die Tatzengröße ausmessen, aus einer Schlingenfalle gerettet haben. Und dass er damit großes Glück hat, denn viele andere Bären in Japan ereilt ein anderes Schicksal.
In der Kleinstadt Karuizawa nordöstlich von Tōkyō, die größtenteils aus Luxusferienhäusern und Einkaufsmöglichkeiten für metropolmüde Hauptstädter besteht, hat sich das Picchio Wildlife Research Center zum Ziel gesetzt, ein gutes Miteinander von Bär und Mensch zur ermöglichen. Umweltschutz, Bildung und Tourismus gehen hier eine Symbiose ein, von der aller Beteiligten profitieren.
Im Sommer 2022 hatte ich die einmalige Chance, eineinhalb Tage bei Picchio zu verbringen. Dabei durfte ich Karelische Bärenhunden streicheln, Baby-Flughörnchen bei ihrem ersten Ausflug aus dem Nest beobachten und bei der Rettung eines Schwarzbären dabei sein. Vor allem aber habe ich ganz viel darüber gelernt, wie mit etwas Einsatz Mensch und Natur in Harmonie co-existieren können. Etwas, das in anderen Regionen Japans leider oft nicht der Fall ist.
Japan hat ein Bärenproblem
Allein auf Japans Hauptinsel Honshū leben geschätzt 15.000 bis 20.000 Bären. Größtenteils Asiatische Schwarzbären, weiter im Norden sind es Braunbären. Ein abstrakter Gedanke für mich als Deutsche, sind bei uns die zotteligen Genossen doch seit 200 Jahren ausgerottet. Sollte sich doch einmal ein Exemplar über die Grenze wagen, wird es sofort als Problemtier eingestuft und zum Abschuss freigegeben.
Doch auch in Japan sind die wilden Verwandten des Teddys nicht vor der Flinte sicher. Circa 3.000 Tiere pro Jahr müssen geschossen werden, da die Bären sich an Feldern, Bienenstöcken und Mülltonnen vergehen. Die Zivilisation stellt eine bequeme Futterquelle dar, wodurch die Tiere aus den Wäldern in bewohntes Gebiet gelockt werden. Zusammenstöße mit Menschen und finanzieller Schaden an Ernte und Besitz sind dabei unvermeidlich.
Circa ein bis zwei Todesfälle und Verletzte bis in den dreistelligen Bereich pro Jahr lassen den Griff zum Gewehr logisch erscheinen. Doch Picchio in Karuizawa beweist, dass es auch anders geht.
Karuizawa – Tōkyōs schnieke Wochenenddestination
„In dieser Siedlung hat Ken Watanabe ein Haus. Und das dort ist die Villa von Bill Gates.“ Amelia vom Picchio Wildlife Research Center deutet auf einen Hügel neben der Straße. Ich recke den Hals, kann aber außer blickdicht verschlossenen Rolltoren und wild wuchernden Bäumen nichts erkennen. So ziemlich jeder mit Rang und Namen scheint ein Ferienhaus in Karuizawa zu besitzen. Zu sehen ist fast niemand. Die meiste Zeit stehen die weit verstreuten Luxusdomizile in den äußeren Bereichen des Stadtgebiets leer.
Karuizawa hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Bekannt war mir die japanische Kleinstadt aus der TV-Reality-Soap „Terrace House: Opening New Doors“, in der sechs Fremde gemeinsam ein großes Haus beziehen. (Ich war dort! Ich habe die grüne Tür gesehen!!! TH-Fans werden meine Schnappatmung verstehen.) Gezeigt wurden bei der Netflix-Produktion schicke Restaurants, gemütliche Cafés und weitläufige Marken-Outlets.
Das dies alles über eine riesige bewaldete Fläche verteilt ist und man stundenlang mit dem Auto über enge Schotterwege von A nach B klappert, das war eine Überraschung für mich. Das beliebte Ferienziel für Tokioter liegt in der Präfektur Nagano am Rand der japanischen Alpen und direkt an der Grenze zur Nachbarpräfektur Gunma. So weit das Auge reicht Bäume, das Zirpen der Grillen fast ohrenbetäubend, die Ferienwohnungen dazwischen wie kleine Puppenhäuser.
Und genau diese Lage macht die Stadt so prädestiniert dafür, in Probleme mit Bären aus dem bewaldeten, bergigen Umland zu laufen. Und gleichzeitig auch, um das Pilotprojekt von Picchio zu finanzieren. Denn Geld ist in Karuizawa durch die Beliebtheit bei Schickeria und Stars Gott sei Dank genug vorhanden.
Einfach Ideen zur Bärenabwehr
Ich bin kaum am Bahnhof in Karuizawa angekommen, da klettere ich schon zu Amelia und zwei weiteren englischsprachigen Praktikanten ins Auto. Es ist ein Kei-Car, eins der kistenförmigen, japanspezifischen Leichtautos mit geringer Leistung und kleinen Außenmaßen – eigentlich perfekt für die überfüllten Innenstädte. Hier muss es als Mini-Transporter für Sack und Pack herhalten und statt über glatten Großstadtasphalt rumpeln wir über rissigen Teer und ausgetretene Waldwege. Fest installiert in der Mittelkonsole ist ein Telemetriegerät, dessen Piepsen verrät, ob sich ein Bär in der Nähe befindet. Vorausgesetzt er trägt ein Funkhalsband.
Das ist meine erste Lektion in Sachen Mensch-und-Bär-Harmonie: am besten begegnet man sich gar nicht. Deshalb werden die Bären rund um Karuizawa gefangen, mit Funkhalsbändern versehen, wieder entlassen und dann kontinuierlich überwacht. Für GPS-Halsbänder reicht das Geld nicht, deshalb kommt klassische Telemetrie zum Einsatz. Von mehreren Punkten aus messen wir die Stärke des Signals und können so bestimmen, wo sich das Tier gerade befindet. Weit weg von Karuizawa? Perfekt.
Damit die getrackten Bären gar nicht erst in Versuchung kommen, sich Siedlungsgebiet zu nähern, hat sich das Team von Picchio ein paar Tricks einfallen lassen. Zum einen sind alle öffentlichen Müllsammelstellen mit Containern ausgestattet (wo es sonst in Japan häufig nur Abdecknetze auf einer betonierten Fläche gibt), die mit speziellen Griffen versehen sind. Für Menschenhände leicht bedienbar, Bärentatzen jedoch scheitern. Zum anderen werden die Felder zur Erntezeit mit Elektrozäunen geschützt.
Und wenn sich dennoch ein Problembär der Stadt nähert? Dann kommt Picchios kuschelige Geheimwaffe zum Einsatz: ein Rudel Karelischer Bärenhunde.
Eine schmusebedürftige Geheimwaffe: Karelische Bärenhunde
„Die Hauptaufgabe der Interns“, erklären mir die Praktikanten, „ist es die Karelischen Bärenhunde zu streicheln. Finden zumindest die Hunde.“ Währenddessen bin ich längst von oben bis unten voller Hundehaare, da ich bei dieser Aufgabe nur zu gern unterstütze. Es sind mutige, loyale und verschmuste Vierbeiner, die hier gerade um die Gunst streichelnder Hände buhlen. Und vor allem sind sie spezialisiert auf das Aufspüren und Vertreiben von Bären.
Wer jetzt an gefletschte Zähne und blutige Bisse denkt, liegt falsch. Die Hunde sind trainiert zu bellen und so den Petz in die Flucht zu schlagen. Effektiv, harmlos, was für eine geniale Lösung, um einen Bär auf urbanen Abwegen zurück in den Wald zu jagen. Denn im Grunde sind Bären eher scheue Wesen und vermeiden die Begegnung mit Menschen. Deshalb trägt auch jeder im Team Picchio und viele Leute, die in Japan wandern gehen, eine Bärenglocke an Gürtel oder Rucksack. Schon diese Geräusch reicht im Normalfall, um die Tiere auf sich aufmerksam zu machen, woraufhin sie das Weite suchen.
Nur wenige „Problembären“ haben sie so sehr an die Zivilisation gewöhnt, dass sie immer und immer wieder das Stadtgebiet aufsuchen. Für diese ist das Team von Picchio im Einsatz. Rund um die Uhr, jeden Tag. Und ungefähr genauso aufwendig war es, die Karelischen Bärenhunde zu trainieren. Es handelt sich um das einzige Rudel in ganz Japan, das von einem Picchio-Mitarbeiter liebevoll von klein auf in einer abgelegenen Waldhütte aufgezogen und in enger Zusammenarbeit mit dem Wind River Bear Institute in Montana, USA entsprechend abgerichtet wurde.
Bei diesem Aufwand dürfte klar sein, warum die Arbeit von Picchio in Karuizawa bisher ein Vorreiterprojekt ohne Nachahmer ist. Es fehlt den Gemeinden an Geld und Personal für diesen zeitintensiven 24/7-Einsatz.
Bären in der Falle
Während meines Besuchs bei Picchio arbeiten die Praktikanten, die sich meiner angenommen haben, gerade an einer Testreihe, welche Lockstoffe für Bären gut funktionieren.
Während sie sich von Karuizawa fern halten sollen, versucht das Picchio-Team außerhalb der Stadt die Tiere einzufangen, um sie in die Datenbank aufzunehmen und mit einem Funkhalsband zu versehen. Dieses ist so konzipiert, dass es nach einiger Zeit wieder abfällt oder auch sich löst, wenn der Bär damit hängen bleibt oder sich noch im Wachstum befindet.
Sprich die Bären werden im Laufe ihres Lebens immer und immer wieder gefangen und freigelassen. Damit dabei kein Tier verletzt wird, verwendet das Picchio-Team Röhrenfallen, deren Eingang zuschnappt, sobald ein Bär sich darin befindet und am Köder zu schaffen macht.
In den Schlingenfallen, wie ich sie eingangs des Artikels erwähnt habe, haben Bären eigentlich nichts zu suchen. Sie dienen dazu, die Reh- und Wildschweinpopulation in Japan unter Kontrolle zu halten. Egal welches Tier darin landet, für viele bedeutet es den Tod, für Bären in jedem Fall Panik und manchmal auch verletzte oder verlorene Gliedmaßen.
Kommt in der Präfektur Nagano ein Bär in solch eine Falle, weiß meistens irgendjemand über Picchio Bescheid und einen Anruf später ist das Team auch schon unterwegs. An einem Sonntag im Juni 2022 zusätzlich mit mir im Gepäck.
Auf Augenhöhe mit einem Schwarzbär
Eineinhalb Stunden fahren wir einmal quer durch die Präfektur. Die Sonne scheint, der blaue Himmel spiegelt sich in den Reisfeldern und Japan zeigt sich mal wieder von seiner besten Seite, als wir einen kurzen Snack-Stop an einem Convenience Store machen und ich meinen Geldbeutel auf der Toilette liegen lasse, den mir prompt jemand hinterherträgt. Es wäre ein perfekter Urlaubstag, wenn ich nicht dieses Adrenalinrumpeln im Bauch hätte, dass sich noch verstärkt, als wir die Straße verlassen und auf einen Waldweg abbiegen.
Höher und immer höher schrauben wir uns den Berg hinauf, dann ist das Handynetz weg und wir sind mitten im Nirgendwo. Welcome to Bear Country. kuma ni go-chūi kudasai.
Zunächst heißt es im Auto sitzen bleiben und vorsichtig die Lage checken. Tatsächlich! Ein junger Schwarzbär ist mit der Vorderpfote in eine Schlingenfalle geraten. Um ihn zu befreien, muss er betäubt werden. Also holen wir das Gewehr aus dem Kofferraum und der erfahrenste Picchio-Mitarbeiter im Team legt sich Schutzkleidung an. Er weiß warum, einige Narben zeugen von früheren Begegnungen mit in Panik geratenen Tieren.
Ich harre der Dinge im Auto. Sicher ist sicher. Erst als die Mission Betäubung erfolgreich abgeschlossen ist, darf ich näher ran und beobachten, wie die Falle entfernt wird. Dann muss alles schnell gehen, denn das Beruhigungsmittel ist so gering wie möglich dosiert und das Team hat nicht viel Zeit den Bär zum Auto zu tragen und die nötigen Untersuchungen zu tätigen. Ist die Pfote unverletzt? Wurde der Bär schon einmal gefangen? Zusätzlich wird Blut entnommen und das Tier vermessen. Ein Männchen, circa ein Jahr alt. Dann kommt er vorübergehend in einen Käfig in den Kofferraum.
Ab in die Freiheit
Es ist ein seltsames Gefühl auf der Rückbank so nah bei einem wilden Bären zu sitzen. Ich kann hören, dass er sich bereits gegen die Betäubung auflehnt und vor allem kann ich ihn riechen. Einzigartiger Bärengeruch.
Damit aus Schlingen befreite Tiere nicht sofort wieder in eine Falle tappen, werden sie an einer anderen Stelle wieder ausgesetzt, wo es keine Jäger gibt. Dafür rumpeln wir weiter über Schotterstraßen tief ins Herz von Nagano hinein. Das Blätterdach filtert die Sonnenstrahlen und noch immer zeigt das Handy keinen Empfang. Hier draußen gibt es nur uns, schwirrende Insekten, das Rauschen eines Wasserfalls und den gestresst grunzenden Bären im Kofferraum, von dem ich nur durch eine Rückback und eine dünnen Eisenkäfig getrennt bin.
Der Bär wird wacher und wacher, es ist an der Zeit ihn frei zu lassen. Dafür tragen die Picchio-Leute den Käfig in ein trockenes Flussbett, wo es rundum erst einmal keine Verletzungsgefahr für das benommene Tier gibt, und binden ein Seil am Käfig fest. So können sie aus sicherer Entfernung die Tür öffnen und den Käfig zurück zum Auto ziehen.
Ganz schön bedröppelt sieht der junge Bär aus, als er da zurück in die Freiheit tappst und sofort versucht loszulaufen. Seine Beine machen das noch nicht mit und sein Hintern schwankt von links nach rechts. Ein bisschen wie ein betrunkener Versuch, Yoga zu machen. Man sollte den „Herabschauenden Hund“ in den „Benommenen Bären“ umbenennen.
Wahrscheinlich wird der kleine Petz noch eine weile einen dicken Kopf haben, aber am Ende zählt nur, dass er gesund und heil aus der Falle herausgekommen ist.
Abschied vom Picchio-Team
Das Team fährt weiter zu einer anderen Schlingenfalle, in die ein Bär geraten ist, doch ich muss zum Zug. Am Ende wäre ich am liebsten noch geblieben. Für den Tag, eine weitere Woche, ein ganzes Praktikum. Aber dafür bin ich leider nicht qualifiziert, da ich mich damals zugunsten der Japanologie gegen ein Biologiestudium entschieden hatte.
Die Erinnerungen an dieses außergewöhnliche Wochenende aber nehme ich mit. Und erzähle jedem von Karuizawa mit den niedlichen Flughörnchen, heldenhaften Bärenhunden und dem sensationellen Team von Picchio, das sich unermüdlich für ein gutes Miteinander von Mensch und Natur einsetzt. Und hoffe, du buchst vielleicht selbst eine Picchio-Tour für deine Japanreise (ich empfehle dir die Flughörnchen-Tour, von der ich ein andermal mehr erzähle), um Japans wilde Seite kennenzulernen und gleichzeitig ein bisschen zu deren Erhalt beizutragen.
Quellen und weiterführende Links
Picchio Wildlife Research Center (engl.)
All About Japan: Bear Attacks in Japan: There Is A Solution (engl.)
GaijinPot: Saving the Bears and People of Nagano (engl.)
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