Manche Bücher kommen einfach zu einem, ganz unvermutet und ohne, dass man sie jemals selbst aus der Auslage des Buchladens genommen hätte. Man findet sie im Zug oder bekommt sie geschenkt. Und manchmal schlummern sie auch zu Hause im Bücherregal des Partners. Von dem man dachte, er könne gar nichts in die Richtung haben, die einen interessiert, dann, wenn das Interesse sich auf „Japaaaaan. Ich will was über Japan lesen!“ beschränkt. So hatte ich plötzlich „Die Toten“ von Christian Kracht in der Hand, dessen Titel eher an einen Krimi-Bestseller denken lässt und ein Cover hat, bei dem man beim schnellen Darüberschweifen mit dem Blick gern übersieht, dass es sich um eine Zeichnung mit wunderschöner japanischer Ästhetik handelt. So tauchte ich ein in die Welt zum Ende der Weimarer Republik und war vom ersten Satz an gefesselt von solch feinfühliger, überbürdender Erzählkunst, wie ich sie bei noch keinem Autor erlebt hatte.
Das Buch „Die Toten“ von Christian Kracht
Filmproduzent Amakasu versucht durch die Aufnahme eines Mannes beim rituellen Selbstmord die Deutschen davon zu überzeugen, einen Regisseur nach Japan zu schicken. Mit diesem möchte er einen Film drehen, der eine deutsch-japanische Achse begründen und das Monopol Hollywoods brechen soll. Entgegen all seiner erhofften Kandidaten schickt man ihm den Schweizer Emil Nägeli, der seinerseits davon träumt, einen Film zu machen, der das ganze Wesen seiner Zeit erfasst. Die beiden verbindet, ohne dass sie es ahnen, so viel mehr als eine gemeinsame Geliebte.
Traumatisiert durch die Kindheit, die eigene übermäßige Intelligenz, sexuelle Perversionen, Verluste, Erfahrungen und Rückschläge wandeln die beiden Protagonisten mit Todessehnsucht und einer Arroganz über allen Dingen zu stehen durch das jeweilige Leben, bis sich ihre Schicksale verknüpfen und den weiteren Verlauf des Lebens des anderen (und derer, zu denen sie in Beziehung stehen) gravierend beeinflussen.
Der erste Satz
„Es war der nasseste Mai seit Jahrzehnten in Tokio; das schlierige Grau des bewölkten Himmels hatte sich seit Tagen in ein tiefes, tiefes Indigo verfärbt, kaum jemand vermochte sich jemals an derart katastrophale Wassermengen zu erinnern; kein Hut, kein Mantel, kein Kimono, keine Uniform saß noch, wie sie sollte; Buchseiten, Dokumente, Bildrollen, Landkarten begannen sich zu wölben; dort war ein widerspenstiger Schmetterling im Flug von Regenschauern hinab auf den Asphalt gedrückt worden – Asphalt, dessen Vertiefungen voller Wasser sich abends die hellbunten Leuchtschilder und Lampions der Restaurants beharrlich spiegelten; künstliches Licht, zerbrochen, portioniert von arrhytmisch prasselnden, ewigen Schauern.“ (S. 11, Kracht, S. Fischer Verlage, 2018)
Meine Meinung
Die meisten Rezension zu diem Buch beginnen mit „Ein Roman wie ein Nō-Stück.“ Denn es stimmt. Die Geschichte ist entsprechend einem Nō-Theaterstück nach dem jo-ha-kyū-prinzip in drei Teile untergliedert. Diese sind sogar mit den entsprechenden Kanji gekennzeichnet: 序, 破 und 急. Krachts „Die Toten“ erklärt sich hier am besten selbst:
„Nun unterbricht wieder Kono, ungeachtet der Frische und Reinheit dieses melancholischen Augenblicks (und ungeachtet des weitaus ranghöheren Sohnes des Premierministers neben ihm) doziert er flüsternd, das Essentielle am Nō-Theater sei das Konzept des jo-ha-kiū, welches besagt, das Tempo der Ereignisse solle im ersten Akt, dem jo, langsam und verheißungsvoll beginnen, sich dann im nächsten Akt, dem ha, beschleunigen, um am Ende, im kiū, kurzerhand und möglichst zügig zum Höhepunkt zu kommen. Achten Sie bitte auf die Schauspieler, sagte Kono leise, sie haben sich wie delikate Geister über die Bühne zu bewegen, mit den Füßen zu schlurfen und zu gleiten, ohne sie vom Boden hochzuheben.“ (S. 104, Kracht, S. Fischer Verlage, 2018)
Mit dem selben melodramatischen Aufbau wartet das Buch auf, mit gleicher Geisterhaftigkeit schlurfen seine Protagonisten durchs Leben, gefangen in ihrer Innenwelt, motiviert Großes zu tun und doch durch sich selbst verhindert.
Tatsächlich zieht sich der erste Teil etwas, doch das Gefühl wird relativiert, wenn man das Gesamtwerk als Hommage ans Nō-Theater wahrnimmt und anders in Relation setzt. Der Leser wird lange eingeführt in das Leben von Amakasu und Nägeli und erfährt in langen Rückblenden viel über die Kindheit und den seelischen Werdegang der Protagonisten. Davon ist vieles gut nachvollziehbar, anderes erschreckend und abstoßend, ganz in der Tradition Mishimas (dessen „Bekenntnisse einer Maske“ gerade auf meinem Nachtisch liegt). Todessehnsucht und sexuelle Erregung liegen oft nah beieinander, kleine Anspielung wie die Erwähnung eines Bildnisses des Heiligen Sebastian lassen vermuten, dass Kracht vertraut ist mit Mishimas Werk und Leben und dies in seine Arbeit an „Die Toten“ einfließen ließ.
Was alles schwer und erdrückend klingen mag, wird aufgelockert durch Krachts feines Talent für Humor und dem Abbilden täglicher Situationen, in denen man sich schmunzelnd wiederfindet, als hätte man sie selbst schon erlebt. Auch schafft der Autor es mit Leichtigkeit, berühmte Persönlichkeiten der behandelten Zeit auftreten zu lassen. Stolpert da wirklich gerade ein junger Heinz Rühmann ins Geschehen, um mit Nägeli einen trinken zu gehen? War Charlie Chaplin wirklich in Japan? Man wundert sich nur kurz und dann sind sie Teil der Geschichte und nicht mehr wegzudenken.
Krachts Buch war im Vergleich zu dem, was ich sonst seichtes die letzten Jahre gelesen hatte, außerhalb meiner Komfortzone und dadurch umso mehr eine Bereicherung. Vor allem sein Schreibstil, lässt sich mich ehrfürchtig verneigen. So lautet mein Fazit: ich kam für Japan, ich blieb für die Sprache.
Weiterführende Links
PS: Wenn du täglich ein Stück Japan in deinen Social-Media-Feeds und dich mit anderen Japan-Fans austauschen möchtest, folge mir auf Facebook, Instagram, Twitter und Pinterest.
Noch mehr Neuigkeiten, Infos, Lustiges und Skurriles gibt es jeden Montag im Japanliebe Newsletter. Trag dich gleich ein und lerne Japan mit mir kennen.
Hallo Elisa,
dein Blog ist eine wunderbare Fundquelle an Unterhaltung! Ich bin auch seit 2009 ganz verliebt in Japan, hatte aber noch nie die Gelegenheit (oder das Budget) dorthin zu reisen. Daher schreibe ich darüber, bis ich es irgendwann einmal selbst erleben kann. =)
Vielen Dank für den Buchtipp, das klingt sehr spannend!