Das Buch wurde mir freundlicherweise vom Aufbau Verlag zur Verfügung gestellt.
„Das Seidenraupenzimmer“ ist Sayaka Muratas neuer Roman. Der Vorgänger „Die Ladenhüterin“ hatte mich total begeistert und war eines meiner Lieblingsbücher 2019. Entsprechend gespannt war ich auf ihr neues Werk, hatte mich nicht einmal über die Story erkundigt, war einfach offen für 250 Seiten eintauchen in den japanischen Alltag.
Was mich erwartete, war zutiefst erschütternd und verstörend. Ja, Muratas Buch dreht sich um die japanische Gesellschaft. Jedoch mit ihren tiefsten Abgründen, jenen, die tagtäglich überall passieren, nebenan, in der eigenen Familie. Täter- und Opferrollen verschwimmen hier genauso wie Realität und Fantasie.
Ein sehr spannendes und mutiges, wenn auch verstörendes Buch. Heute stelle ich es dir genauer vor:
„Das Seidenraupenzimmer“ von Sayaka Murata
Natsuki ist in der fünften Klasse und hat ein Geheimnis: sie ist ein Magical Girl und ihr Auftrag ist es, die Erde vor bösen Mächten zu beschützen. Schon früh lernt Natsuki sich in eine Fantasiewelt zu flüchten, um der realen zu entkommen. Denn in dieser ist sie nur der Fußabstreifer für ihre Eltern, die sich lieber um Natsukis ältere Schwester Kise kümmern – die Hauptperson der Familie. Alles dreht sich um Kise, alles geht nach ihrem Willen. Natsuki hingegen wird nur beschimpft, manchmal auch geschlagen und als Versagerin abgestempelt.
Einen Verbündeten findet das Mädchen in ihrem Cousin Yu, der sich für einen Außerirdischen hält und darauf hofft, auf seinen Heimatplaneten zurückkehren zu können. Ein Magical Girl und ein Alien – zwei unverstandene, einsame Kinder. Schon früh verlieben sich die beiden.
Als Natsuki von ihrem Nachhilfelehrer sexuell missbraucht wird, beginnt für sie eine unaufhaltsame Flucht in ihre Fantasiewelt, die ihre einzige Befreiung aus den gesellschaftlichen Zwängen darstellt. Ihre Entwicklung im realen Leben verwandelt sich dadurch mehr und mehr zu einer schier unbegreiflichen Tragödie.
Der erste Satz
„Inmitten der hohen Berge von Akishina, wo meine Großeltern lebten, ließ die Nacht sogar am helllichten Tag noch ihre Splitter zurück.“ (S. 5, Murata, Aufbau, 2020)
Meine Meinung
Selten ist es mir so schwer gefallen, über ein Buch zu schreiben, ohne zu spoilern. Am liebsten würde ich gar nichts verraten und dir die Möglichkeit bieten, in Natsukis fremde Welt einzutauchen, so wie ich das gemacht habe. Ganz ohne Ahnung, welch Grauen mich, in diesem auf dem Klappentext so harmlos klingenden Roman, erwarten würde. Junge Liebe, 20 Jahre später Rückkehr an den Ort der Kindheit… Klingt doch nett.
Konfrontiert wurde ich mit der bitteren Realität von am Ende drei Protagonisten, die bereits in jungen Jahren Missbrauch erfahren: emotional, physisch, sexuell. Und Realität ist hier ein schwieriges Wort, denn sie alle sehen die Welt aus ihrer ganz eigenen Perspektive. Durch einen dicken, schützenden Vorhang aus Fantasien, der nur den einen Zweck hat: „Wir müssen überleben, egal, was passiert.“ (S. 58, Murata, Aufbau, 2020)
Während dem Lesen war ich ständig hin und her gerissen. Einerseits war mir mit externem Blick völlig klar, dass Natsukis Fantasien eben nur jener Schutzmechanismus sind und ihre Taten, die sie unter diesem Deckmantel verübt, nicht zu entschuldigen sind. Andererseits macht Murata die Entwicklung ihrer Figuren so nachvollziehbar. Die Gesellschaft mit ihren Normen und Erwartungen, wie wir sie kennen, ist in Natsukis Augen eine Fabrik, die dem einzigen Zweck dient, Nachkommen zu produzieren und die geregelte Ordnung aufrecht zu erhalten. Wer ausbricht, wird zurückgeholt.
Die Ordnungshüter sind je nach Fall die Polizei oder Vorgesetzte, meistens jedoch sorgen die engsten Freunde und Familienmitglieder dafür, dass man an seine Rolle in der Fabrik erinnert wird. „Willst du nicht endlich heiraten?“ „Wan bekommt ihr endlich ein Baby?“ „Ist ja schön und gut, wenn du als Kind sexuell missbraucht wurdest, aber von sowas kannst du nicht dein ganzes Leben bestimmen lassen. Such dir einen Mann, macht ein paar Kinder und alles ist gut.“
Ich glaube jeder von uns kennt Situationen, in denen gesellschaftliche Normen auf einen projiziert werden. Ob dies nun bei der Berufs- oder Partnerwahl, der Entscheidung für oder gegen Kinder, dem Wohnort oder den kleinen Dingen im Alltag wie Hobbies und Kleidungsstil ist. In Japan ist dieser Druck von außen noch um ein vielfaches höher als in Deutschland.
Heiraten, dafür als Frau den eigenen Beruf aufgeben und dann aufopferungsvoll die Kinder groß ziehen sind die Norm. Männer wiederum müssen beruflich leisten und sich in manchen Fällen wortwörtlich zu Tode arbeiten. (Einer der Gründe, warum Yoshiharu Tsuges „Der nutzlose Mann“ als gegensätzlicher Lebensentwurf in Japan so einen Kultstatus genießt.)
In Muratas letztem Roman „Die Ladenhüterin“ findet die entfremdete Protagonistin ihren Platz in der Gesellschaft durch Imitation, um nicht zu sehr aufzufallen. Auch wenn sie sich für ihren eigenen Weg entscheidet, findet dies dennoch in einem gesellschaftlich einigermaßen akzeptablen Rahmen statt. Nicht so in „Das Seidenraupenzimmer“. Der Ausbruch hier kann nur durch Extreme erreicht werden. Durch das Brechen der letzten Tabus.
Damit erweist sich Murata als eine der mutigsten Schriftstellerinnen der letzten Jahre und gehört mit einigen anderen jungen Japanerinnen zu einer neuen Riege Autoren, die Japan und seiner Gesellschaft schonungslos den Spiegel vorhalten. Was wir darin sehen können, ist nicht immer schön. Aber nur, wenn man sich Problemen bewusst wird, kann man diese auch in Angriff nehmen. Was auch passieren muss. Denn die alternativen Ausbrüche, wie Murata sie in ihrem Buch beschreibt, lösen zumindest bei mir blankes Entsetzen aus.
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Nach der Lektüre geht mir das Buch jetzt tagelang im Kopf um.
Das artifizielle Konstrukt der menschlichen Existenz in heutiger Zeit wird im Buch durch das Abgleiten ins Groteske schonungslos entlarvt- und das eher basierend auf Gefühlen, die im Leser ausgelöst werden, und nicht auf Kopfebene, wie es in der westlichen Hemisphäre eher üblich ist.
Vielen Dank Dir, Elisa, für das „Vorsortieren“ der Literatur aus Japan, trifft ganz meinen Geschmack, und ich bin dabei bei „Brüste und Eier“!!!
LG
Edith
Liebe Edith,
ich freu mich sehr, wenn das Buch ein guter Tipp für dich war. Ich bin mehr und mehr fasziniert von der japanischen Art zu schreiben, mit dieser ganz unaufgeregten Art des Erzählens, die aber in mir solch starke Emotionen hervorruft. Auf dein Urteil zu „Brüste und Eier“ bin ich sehr gespannt. Darüber hinaus möchte ich dir sehr „Insel der verlorenen Erinnerung“ ans Herz legen. Mein persönlicher Favorit im Moment.
Alles Liebe, Elisa
Oha, das klingt ja sehr spannend – kauf ich mir gleich! Danke für diese Rezension und die Auswahl des Titels. Ich liebe Japan und finde aber gleichzeitig, dass es eine hochkomplexe, sehr menschenfeindliche Gesellschaft ist, was man als Tourist sehr gern ignoriert.
Die Bücher von Alex Kerr haben mir in der Beziehung die Augen geöffnet, wobei er ja eher auf der sachlichen Ebene bleibt.
LG
Jenny
Ich bin sehr sehr gespannt, wie es dir gefallen wird.
Ja, das mit der Gesellschaft ist so eine Sache. Ich liebe Japan als Reiseland und Fokus meiner Interessen und Forschungen, aber dauerhaft dort leben möchte ich zum Beispiel nicht. Eben weil es richtig hart ist, wie mit Menschen, vor allem Frauen, aber auch Männern auf ganz anderer Ebene, umgegangen wird.