„Heaven“ wurde mir freundlicherweise vom DuMont Verlag zur Verfügung gestellt.
Auf welcher Seite standest du während der Schulzeit? Wurdest du gemobbt, hast du gemobbt oder hast du dich still gehalten und warst du nur froh, dass du nicht Ziel des Spots und im schlimmsten Fall der körperlichen Gewalt der Schulbullies geworden bist? Oder war der Übergang gar fließend? Die japanische Autorin Mieko Kawakami, die letztes Jahr durch die Veröffentlichung von „Brüste und Eier“ Weltruhm erlangt hat, behandelt in ihrem Roman „Heaven“ grundlegende Fragen von Moral und Stärke. Als Bühne dafür wählt sie eine Mittelschule und den täglichen Kampf zwischen den Jugendlichen um Macht und Ohnmacht. Das ist nichts für schwache Nerven und ich spreche an dieser Stelle ein Triggerwarnung zu den Themen Gewalt, Mobbing und Suizid aus.

Heaven
Mieko Kawakami
Übersetzt von Katja Busson
DuMont Verlag
ISBN: 978-3832171025
„Heaven“ von Mieko Kawakami
Der 14-jährige Erzähler des Buchs schielt. Seit Jahren wird er tagtäglich in der Schule drangsaliert, sowohl psychisch wie auch physisch. Darüber sprechen kann er mit niemanden, bis er eines Tages einen kurzen Brief zugesteckt bekommt, in dem nur steht „Wir gehören zur selben Sorte“. Es stellt sich heraus, dass er von seiner Mitschülerin Kojima stammt, die ebenfalls wegen ihrer schäbigen Klamotten und mangelnden Körperhygiene gemobbt wird.
Durch Briefe und später auch Treffen entsteht zwischen den beiden eine Freundschaft. Über das Mobbing, das sie beide ertragen müssen, sprechen sie allerdings nicht. Stattdessen versuchen sie, sich eine kleine geschützte Welt zu schaffen, in der sie beide normal sind und über alltägliche Dinge sprechen, wie andere Kinder in ihrem Alter auch.

Auf Dauer können die beiden trotzdem nicht verleugnen, was ihnen jeden Tag angetan wird. Es überschattet ihre Freundschaft und bringt Konsequenzen mit sich, bei beiden auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Während Kojima immer stärker zu werden scheint, verzweifelt der Ich-Erzähler mehr und mehr an seiner Situation.
Der erste Satz
„Eines Tages Ende April steckte zwischen den Bleistiften in meinem Federmäppchen ein mehrfach gefaltetes Stück Papier.“ (S. 5, Kawakami, DuMont, 2021)
Meine Meinung
Was für ein schreckliches Buch, was für ein fantastisches Buch! Selten habe ich mich so vor der jeweils nächsten Seite gefürchtet, während ich einfach weiterlesen musste. Kawakami ist hier ein Meisterstück gelungen, in dem sie ein realistisches Bild von jugendlichen Charakteren zeichnet, die gleichzeitig die ganz großen Fragen der Menschlichkeit stellen: Was ist Stärke? Wozu berechtig sie? Welche Rolle spielt Lusterfüllung jeglicher Art im Gegensatz zu Moral? Und wer bestimmt überhaupt, was Moral ist, und was einen guten Menschen ausmacht?

Am Anfang des Lesens kam eine Zeit lang Hoffnung bei mir auf, schließlich finden sich hier zwei, die vorher komplett allein mit ihren Problemen sind. Gemeinsam unternehmen sie sogar einen Ausflug zu einem Museum, in dem Kojima dem Erzähler ein Bild zeigen möchte, dass sie selbst „Heaven“ getauft hat. Sie beschreibt, dass es zwei Personen in einem Zimmer zeigt, ihrem Refugium. Sie haben es überstanden, wie Kojima es sieht, sie sind in ihrem „Heaven“ sicher. Doch bis zu dem Bild kommen die beiden Schüler nicht. Ein Indikator dafür, wie der Rest des Romans verlaufen wird.
Während dem Lesen habe ich mich die ganze Zeit eigentlich nur gefragt, auf welche Katastrophe die Geschichte wohl zusteuert. Eine Hilflosigkeit machte sich in mir breit, gerne hätte ich eingegriffen, rief den Kindern im Geiste zu „Verdammt noch mal, sprecht mit einem Erwachsenen darüber“. Dass dies nicht unbedingt immer hilft, hat eindringlich „Das Seidenraupenzimmer“ von Sayaka Murata gezeigt, in dem Erwachsene zu Tätern werden und ihre Hilfe verweigern. Dennoch hatte ich mir so eine mächtige Intervention gewünscht.
Doch woher sollte diese kommen? Die Eltern der beiden Kinder glänzen ähnlich wie in „Brüste und Eier“ durch Abwesenheit oder Passivität, sind zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, als sich um die Belange der Jugendlichen zu kümmern. Kawakami zeigt schmerzlich auf, wie einsam man auch in einem Familienverband sein kann und hinterfragt ganz deutlich den Sinn dieser gesellschaftlichen Norm.
Am Ende hinterlässt das Buch viele Fragen. Allerdings nicht an die Geschichte, sondern an einen selbst.
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Heaven
Mieko Kawakami
Übersetzt von Katja Busson
DuMont Verlag
ISBN: 978-3832171025
Fazit zu „Heaven“ von Mieko Kawakami
„Heaven“ ist thematisch ein schwergewichtiges Buch, dass durch Kawakamis klaren Schreibstil getragen wird. Sie trifft dem Leser direkt in die Seele und auch Tage, nachdem man das Buch aus der Hand gelegt hat, lässt es einen gedanklich nicht los. Es ist brutal und hoffnungslos, sanft und hoffnungsvoll zugleich. Absolute Leseempfehlung!
Hast du das Buch gelesen? Lass mir gerne einen Kommentar da, wie es dir gefallen hat.
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Hi, ich habe „Heaven“ vor wenigen Wochen selbst gelesen und kann deine konträre Gefühlslage zu dem Roman (brutal und hoffnungslos, sanft und hoffnungsvoll) sehr gut nachvollziehen. Mir ging es während des Lesens ganz genau so. Vor allem die Darstellung der alltäglichen physischen und psychischen Brutalität hat mich während des Lesens beschäftigt, wobei ich finde, dass die Autorin die Möglichkeit des Ich-Erzählers, mit seinen Eltern über das Mobbing zu sprechen, auf sehr realitätsnahe Beschreibung der elterlichen Passivität ausgeschlossen hat, sodass ich mich beim Lesen gut in die verzweifelte Lage des Ich-Erzählers versetzten konnte. Ich wollte den beiden Charakteren weniger „Verdammt noch mal, sprecht mit einem Erwachsenen darüber“ als „Haltet einfach durch!“ sagen.
Leider ist es sehr realistisch, dass Kinder mit solchen Erfahrungen alleingelassen sind. Ich habe das Glück, aus einer Familie zu kommen, in der immer über alles gesprochen wurde und wird, da ist der Gang zu einem Erwachsenen der konsequente Schritt für mich. Und ich hätte den Protagonisten so einen Strohhalm gewünscht, weil man es beim Lesen eben kaum aushält. Ein wirklich starkes Buch!