Das Buch wurde mir freundlicherweise vom DuMont Verlag zur Verfügung gestellt.
Noch bevor das Buch in Deutschland erschien, war klar: „Brüste und Eier“ von Mieko Kawakami wird ein Hammer! Man muss es gelesen haben! Mir zumindest war nach der Inhaltsangabe sofort klar, dass ich es lesen wollte. Doch wo ist plötzlich der Appeal bei dem Buch einer japanischen Autorin für die breite Masse?
Mieko Kawakami schreibt in gewohnt japanisch unaufgeregter Art von Dingen, über die man sich durchaus aufregen muss. Leistungsdruck, Erwartungen, Normen. Gesellschaftliche Zwänge und welche Auswirkungen sie auf Frauen und Männer haben. Dinge, die ganz typisch japanisch sind und gleichzeitig doch so universell, dass sich auch westliche Leser darin wiederfinden.
Mit knapp 500 Seiten ein echter Wälzer, der sich aber sehr schnell und gut wegliest, während die Gedanken zu rattern beginnen.
„Brüste und Eier“ von Mieko Kawakami
Natsuko ist 30 und ist vor einigen Jahren nach Tōkyō gezogen, um als Schriftstellerin ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie ist mit ihrer älteren Schwester Makiko in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und verlor früh den Rest ihrer Familie. Noch als Schülerin jobbte sie bereits hinterm Tresen einer Hostessen-Bar, wo ihre Schwester bis heute arbeitet.
Mitten im Sommer kommt Makiko mit ihrer zwölfjährigen Tochter zu Besuch. Makiko ist besessen von dem Gedanken, sich die Brüste vergrößern zu lassen, um mit den jüngeren Hostessen in der Bar mithalten zu können. Sie kennt kein anderes Thema mehr und spricht ohne Unterlass über den geplanten chirurgischen Eingriff, während ihre Tochter schon seit Monaten gar nicht mehr mit ihr spricht.
Dabei dreht sich im Kopf des Mädchens alles um die mit der Pubertät bevorstehenden Änderungen ihres Körpers, denen sie mit Furcht entgegen sieht.
Jahre später ist es Natsuko selbst, die mit ihrem Alter und Körper hadert und sich die Frage stellt, ob es für sie möglich und vor allem moralisch vertretbar ist, ein Kind zu bekommen, obwohl sie keinen Partner hat.
Der erste Satz
„Wen man wissen will, wie arm jemand war, fragt man ihn am besten, wie viele Fenster die Wohnung hatte, in der er aufgewachsen ist.“ (S. 9, Kawakami, DuMont, 2020)

Meine Meinung zu „Brüste und Eier“
Frauenbilder
Da fühlt sich eine Frau berufen, ihr ganzes Erspartes in eine Brust-OP zu investieren, weil sie hofft, dieser Eingriff würde ihr Leben ändern. Ihren „Marktwert“, der in ihrem Job als Hostess überlebenswichtig ist. Sie kann sich selbst, wie sie ist, nicht mehr akzeptieren. Von außen wird ihr das Bild suggeriert, dass ihre Brüste üppiger und ihre Brustwarzen heller sein sollten.
Dabei bleibt die Beziehung zu ihrer eigenen Tochter Midoriko völlig auf der Strecke. Diese ist ein modernes Mädchen an der Schwelle zur Pubertät. Durch Schule, TV und Internet ist sie umfangreich informiert, welche biologischen Veränderungen auf sie zukommen werden. All diese Informationen sind aber kein Ersatz für eine vertrauensvolle Beziehung zu ihrer Mutter. Denn Veränderung macht Angst. Und Frau sein ist in vielerlei Hinsicht nach wie vor ein Tabu. Da Midoriko ihre Angst nicht verbal zum Ausdruck bringen kann, beschließt sie lieber gar nicht mehr zu sprechen.
Wenn ich meine Tage bekomme, fließt mir jahrzehntelang, so lange, bis ich meine Tage nicht mehr bekomme, jeden Monat Blut zwischen den Beinen heraus. Was für eine schreckliche Vorstellung. […] Mein Körper bekommt irgendwann Hunger, er bekommt irgendwann seine Tage, und ich bin darin eingesperrt. Von der Geburt bis zum Tod zu leben, immer weiter zu essen, immer weiter Geld zu verdienen […] das macht einen fertig. […] Wenn man seine Periode bekommt, ist man geschlechtsreif und kann schwanger werden. Wenn man schwanger wird, kommt ein essender und denkender Mensch dazu. Wenn ich darüber nachdenke, könnte ich heulen.
(S. 47 ff., Kawakami, DuMont, 2020)
Kawakami bringt fantastisch zum Ausdruck, worüber in Japan alles nicht gesprochen wird, indem sie selbst schonungslos ehrlich darüber schreibt. Von Restharnbildung bis Asexualität, ihre Protagonistin und die Frauen in deren Umfeld sprechen offen. Und es ist nicht immer schön zu hören, was da gedacht und gesagt wird, welche Wahrheiten ans Licht kommen.
Männerbilder
Männer glänzen in „Brüste und Eier“ entweder dadurch, keine Verantwortung übernehmen zu wollen, durch ihre Abwesenheit oder auch als Täter bei Missbrauch unterschiedlicher Art.
„In seinem gelb verfärbten Unterhemd und seiner langen Unterhose lag mein Vater von früh bis spät im Bett und sah fern. An seinem Kopfkissen türmten sich Zeitschriften und leere Dosen, die ihm als Aschenbecher dienten, das Zimmer war vollständig verqualmt. Jede Bewegung war ihm zu viel; manchmal benutzte er einen Handspiegel, um zu uns herüberzusehen, so faul war er.“
(S. 15, Kawakami, DuMont, 2020)
Man bekommt geradezu das Gefühl, dass Männer und Frauen zusammenkommen, um Kinder zu zeugen, sonst aber in völlig unterschiedlichen Welten leben. Fast alle beschriebenen Beziehungen sind dysfunktional. Die einzige, die durch ihre Intensität auch Veränderung mitbringt, gilt offiziell nicht als Beziehung. Der einzige Mann, der seiner Vaterrolle gerecht wurde, bekommt keine Anerkennung dafür.
Die Männer in „Brüste und Eier“ sind entweder selbst Opfer des Systems oder aber machen sich in den meisten Fällen das System zunutze und üben Macht aus. Im Vergleich wirken die Frauen als Einzelkämpferinnen, die sich zu behaupten haben, wenn sie nicht benutzt werden wollen.

Natsuko, Eier und ein Kind
Im Mittelpunkt dieser lebens- und beziehungsunfreundlichen Welt steht Natsuko. Sie ist genügsam und hat gelernt, mit den Umständen zu leben. Ist da noch Platz für eigene Wünsche und Träume?
Das Buch ist untergliedert in zwei Teile mit einem Zeitabstand von acht Jahren. Im ersten dreht sich alles um die Brust-OP ihrer Schwester und deren Verhältnis zur zwölfjährigen Midoriko. Natsuko ist hier eher Beobachterin, ihre Wohnung der Austragungsort für die Kämpfe von Schwester und Nichte jeweils mit sich selbst und letztendlich auch miteinander.
Das Finale dieses Teils, das übrigens dem Buch seinen Namen und den „Eiern“ darin eine Berechtigung gibt, hat mich völlig begeistert. Ich durfte als Leser Beobachter einer zugleich absurden und dadurch so menschlichen Szene werden, die mir nicht so schnell wieder aus dem Kopf gehen wird. Ganz großes Kino!
Der Sprung zum zweiten Teil ist daraufhin umso abrupter. Mariko und ihre Tochter Midoriko spielen hier nur noch am Rande eine Rolle. Es ist Natsukos Gedankenwelt, in die man nun eintaucht, wodurch man die Protagonistin endlich besser kennenlernt. Und ihre Gedanken drehen sich nur noch um die eine Frage: möchte sie ein Kind?
Moralische Grundfragen
Mit dieser Frage sind viele Probleme und moralische Bedenken verbunden. Da Natsuko asexuell ist und Geschlechtsverkehr als Qual empfindet, fühlt sie sich nicht in der Lage, eine Beziehung mit einem Mann zu führen. Ihre einzige Option wäre eine Samenspende, doch diese sind in Japan verheirateten Paaren vorbehalten. Seit ein paar Jahren gibt es internationale Samenbanken und auch private Spender, bei denen jedoch eine medizinische Betreuung wegfällt und die Empfängerin der Spende den Samen mit einer Spritze selbst einführt.
Natsukos Recherchen stellen sie vor das Dilemma, ob sie es „verdient hat“ als Asexuelle ein Kind zu bekommen, das nicht auf natürlichem Weg gezeugt wird, ob es dem Kind gegenüber zu verantworten ist, wenn ein Elternteil unbekannt ist und letztendlich, ob es generell moralisch vertretbar ist, ein Kind zu bekommen. Handelt es sich beim Kinderkriegen nicht um einen sehr egoistischen Akt? Und wer bestimmt, was gute Eltern ausmacht? Ist es automatisch in Ordnung, dass ein Paar Kinder in die Welt setzt, nur weil sie der gesellschaftlichen Norm entsprechen, indem sie Mann und Frau und in einer Beziehung sind?
Ich kenne einen Prof […] [w]wenn die Mädchen älter als zwölf sind, kriegt er keinen hoch. Er hat eine Frau, keine Ahnung, wie er sich die angelacht hat, aber die weiß natürlich von nichts. Vor Kurzem ist sie […] schwanger geworden […] – sind das gute Eltern? Bei denen kann man nur beten, dass sie keine Tochter kriegen. Verdammte Scheiße.
(S. 368 f., Kawakami, DuMont, 2020)

Natsumonogatari
natsu monogatari 夏物語 heißt das Buch im Original – „Sommergeschichte“. Das natsu 夏 von Sommer findet sich als Schriftzeichen auch im Namen der Protagonistin, sogar doppelt. Also kann der Titel des Buchs auch als „Natsukos Geschichte“ interpretiert werden. Passend, begleiten wir die Hauptperson schließlich über einen Zeitraum von über zehn Jahren hinweg.
Mit dem Zeitsprung war ich etwas unzufrieden, die beiden Teile hängen wirklich kaum zusammen und ich sehe sie fast als getrennte Bücher. Wobei ich das erste geistig als „Brüste und Eier“ bezeichne, das zweite als „Natsukos Geschichte“.
Ja, die „Eier“ passen natürlich auch zum zweiten Teil, wo sich alles um Eizellen dreht, aber hat man erst einmal das Finale des ersten Teils gelesen, verschiebt sich diese Sichtweise. Deshalb möchte ich auch allen, die den Titel zu anrüchig, zu plump sexuell konnotiert finden, ans Herz legen, darüber hinweg zu sehen. Am Ende von Teil 1 macht er dann plötzlich Sinn.
Fazit
Ich habe das Buch innerhalb weniger Tage verschlungen. Sprachlich empfinde ich japanische Bücher in ihrer nüchternen Erzählweise unglaublich leicht zu verdauen. Inhaltlich sieht es schon ganz anders aus.
Da ich mich selbst im selben Alter wie die Protagonistin später im Buch befinde, kann ich mich in vielem gut mit ihr identifizieren. Und Mieko Kawakami stellt viele mutige Fragen, die zum Nachdenken bringen.
Es ist ein düsteres Bild der Welt, in der japanische Frauen leben müssen, das die Autorin da zeichnet. Doch gleichzeitig zeigt sie auch auf, welche Kraft in diesen Kämpferinnen steckt und wie aufrichtige Kommunikation der Schlüssel zu vielen Problemen sein kann. Ein wichtiges Buch, dass japanischen Frauen einen Raum, eine Bühne bietet, die dringend nötig ist, um Veränderungen in der Gesellschaft in Gang zu bringen.
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