Gebäck aus Plüsch. Natürlich in niedlich mit Gesichtern.

Und plötzlich war alles kawaii

Nach Japan zu kommen ist erst einmal eine Reizüberflutung. Irgendwie ist vieles wie bei uns und doch so anders. Während ich mich, kaum die Füße zum ersten Mal auf japanischem Boden, sofort heimisch fühlte, gab es viel neu zu entdecken und zu lernen. Frisch ausgestattet mit den ersten Lebensmitteln und einem Fahrrad machte ich mich noch vor Beginn des Semesters an der Sprachschule auf den Weg in die nicht weit von meiner Wohnung entfernte Aeon Shopping Mall. Und plötzlich war alles kawaii.

Shoppen in Japan – es ist laut und alles hat ein Gesicht

Postkarten mit zugleich leckeren wie kawaii-niedlichen Motiven.
Postkarten mit zugleich leckeren wie kawaii-niedlichen Motiven.

Shoppen in Japan bedeutet in erster Linie eins: es ist laut. Egal ob nun in einer Shopping Mall oder in den überdachten Fußgängerzonen der Städte: aus jedem Geschäft dudelt eine andere Musik. Idealerweise so laut, dass sie die des Nachbargeschäfts übertönt. Wenn das nicht ausreicht, stellt man eine Art Marktschreierin vor den Eingang, die in unnatürlich hoher Stimme, Passanten begrüßt und animiert einzutreten.

Diese hohe Stimme, die für mich eher an die unnatürliche eines Roboters erinnert, soll kindlich anmuten und gilt dadurch als niedlich – kawaii. Ein wichtiges Attribut, um in Japan als attraktiv und ansprechend zu gelten. Frauen, die im Handel arbeiten wollen, müssen oft extra Trainings absolvieren, um die ungewöhnlich hohe Tonlage zu erreichen.

Die Niedlichkeit zieht sich in Japan durch alle Bereiche. Einfaches Mittel, um etwas kawaii zu machen: man verpasse etwas, das eigentlich keines hat, ein Gesicht. Brot aus Plüsch zum Beispiel. Oder Lebensmitteln generell. Selbst das gezeichnete Schweinchen in der Kochzeitschrift erklärt mir süß grinsend an sich selbst, wo sich die leckersten Teile von ihm befinden. Durchaus etwas makaber.

Vor allem Lebensmittel werden in Japan besonders gern mit Gesichtern dargestellt.
Vor allem Lebensmittel werden in Japan besonders gern mit Gesichtern dargestellt.

Woher kommt das kawaii-Phänomen?

Sucht man online nach der Antwort auf diese Frage, stößt man immer wieder auf die Entstehung einer kindlichen, rundlichen Handschrift, die sich japanische Mädchen in den 1970er Jahren aneigneten.

Sie galt als kawaii und dieses Gefühl breitete sich auf alle Lebensbereiche aus. Nicht jedoch ohne Widerstand. Die Schrift war schwer zu lesen und wurde deshalb in manchen Schulen verboten. Ein Brandbeschleuniger für den damaligen Trend.

Die Wurzeln für kawaii reichen jedoch viel weiter zurück. Sonst hätte nicht aus einer jugendlichen Spielerei ein allumfassendes ästhetisches Konzept entstehen können, das mittlerweile als japanisches Kulturgut angesehen wird.

Wenn du mehr über kawaii in Japan und dessen Entstehung lesen möchtest, lege ich dir das Buch „Kawaii Mania“ von Andreas Neuenkirchen ans Herz. Unterhaltsam setzt er sich mit dem Thema und all seinen (verrückten) Auswüchsen auseinander. (Hinweis: Das Buch wurde mir vom Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt)

Der Knopf einer Ampel in Okazaki in Form einer Polizei-Eule.
Der Knopf einer Ampel in Okazaki in Form einer Polizei-Eule.

Warum Barbie in Japan nicht erfolgreich ist

1974 erkannte die Firma Sanrio das potential der Niedlichkeits-Welle und Hello Kitty wurde geboren. Großer Kopf, keine Mimik– eine putzige Figur mit Katzenohren, auf die man alles mögliche projizieren konnte.

Hello Kitty eroberte erst Japan und dann den Rest der Welt im Sturm. Viele andere Kultfiguren und Konkurrenzfirmen wie San-X folgten. Die Entstehung der Maskottchen-Kultur in Japan war nur eine Frage der Zeit.

Ein Selfie mit Stadtmaskottchen Hikonyan an der Burg von Hikone.
Ein Selfie mit Stadtmaskottchen Hikonyan an der Burg von Hikone.

Aber auch Charaktere aus dem Ausland hatten Erfolg: Snoopy, die Moomins, der Hase Miffy sind nur drei Beispiele für äußerst erfolgreiche Franchises, die dir auch heute überall im Land begegnen werden.

Doch nicht alles, was im Westen funktioniert, ist automatisch auch in Japan erfolgreich. Ein Beispiel sind die Spielzeug-Puppen „Cabbage Patch Kids“, die am Konzept des kawaii vorbei schrammten und in Japan eher als hässlich empfunden wurden. Auch Barbie passt nicht ins Bild, denn sie wirkt zu erwachsen. Ganz im Gegensatz zu ihrem japanischen Pendant – der im Lieblingsland extrem erfolgreichen Licca-Puppe (リカちゃん) von Takara Tomy, die ein 11-jähriges Mädchen darstellen soll.


Eine Seite in einem japanische Versandkatalog bewirbt niedliche Toiletten-Sets. Von Hund über Wolke bis Waschbär ist alles dabei.
Eine Seite in einem japanische Versandkatalog bewirbt niedliche Toiletten-Sets. Von Hund über Wolke bis Waschbär ist alles dabei.

Es ist nicht leicht, über kawaii zu schreiben, ohne dabei eine Augenbraue nach oben zu ziehen. Zu seltsam ist der Gedanke, dass in einem Land einfach alles niedlich dargestellt wird, selbst Warnschilder und Baustellenabsperrungen. Und doch muss ich zugeben: ich liebe es! Kind und kindisch sein ist in Japan ausdrücklich erlaubt. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich gehe eine Runde mit meinem Plüschbrot kuscheln. Mit Gesicht, versteht sich.

Quellen und weiterführende Links zum Thema “kawaii

Rakuten Travel Experiences: Kawaii 101: Behind the Cultural Phenomenon (engl.)
Licca | TOMY Company, Ltd. (engl.)

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6 Kommentare zu “Und plötzlich war alles kawaii

  1. Ein schöner Artikel, ich sauge ja alles rund um Japan auf wie ein schwamm, ich habe es leider noch nicht persönlich geschafft dort zu sein, aber es ist geplant. Da mein Sohn meine Leidenschaft teilt ist der Plan wenn mit ihm zusammen nach Japan zu fliegen sobald er die Volljährigkeit erreicht 😉
    Dann aber gleich richtig für 4 Wochen mindestens und auch wirklich viel von Land und Leuten zu sehen ☺️
    Wird ein teurer Spaß aber das sparen lohnt sich 😉
    Lg Dirk

    • Oh ja, oh ja! In 4 Wochen könnt ihr richtig viel erleben und euch so richtig einleben dort. Das Sparen lohnt sich, denn es wird unvergesslich werden. 😌

  2. Christian W.

    Kawaii macht das triste und oftmals sehr schwere Leben etwas freundlicher und bunter.
    Ich sehe darin jedoch die Gefahr, dass durch kawaii eventuell all zu schnell die tatsächlichen Ursachen vergessen werden, die für viele Probleme verantwortlich sind und dass durch kawaii mehr Übel hingenommen wird und der Widerstand sinkt, weil ja alles so niedlich erscheint.

    • Ich mag den Aspekt “kawaii” an Japan sehr, bin mir aber auch sicher, dass er teils instrumentalisiert wird, genau wie du das beschreibst.

  3. Ich finde, man braucht das auch ganz dringend im Alltag, diese kleinen niedlichen Gesichter, die einen überall aufmuntern. Ich finde, davon bräuchten wir hier auch viel viel mehr

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