Triggerwarnung: Dieser Artikel behandelt unter anderem die Themen Abtreibung, Kindstötung und Verlust eines Kindes.
„Geht’s dir gut?“ kam die Nachfrage einer guten Freundin, nachdem ich auf meinem privaten Facebook-Profil ein Bild von mir mit eine Ansammlung von Jizō-Statuen geteilt hatte. Jene kleinen, glatzköpfigen Figuren, die einem in Japan fast überall begegnen und die auffällig oft rote Babylätzchen und manchmal auch passende Mützen dazu tragen. Das Foto hatte ich aus ästhetischen Gründen online gestellt. Ihr Sorge war in meinem Fall Gott sei Dank unbegründet. Die Grund für ihre Vermutung, dass ich mit diesem Bild auf etwas hinweisen wolle, hingegen nicht. Denn Jizō-Statuen haben in Japan eine ganz besondere Bedeutung: sie sind die Begleiter verstorbener Kinder ins Totenreich.
Ursprünge der Jizō-Statuen
Jizō 地蔵 ist eine Figur aus dem Buddhismus und erfreut sich in Japan großer Beliebtheit. Es handelt sich bei ihm um einen Bodhisattva, also einen Erleuchteten, der beschloss seine Buddhaschaft dazu zu nutzen, den Menschen zu helfen. Während er in anderen buddhistischen Ländern – dort ist er bekannt als Kshitigarbha – eine untergeordnete Rolle spielt, gehen die frühsten Nachweise für den Jizō-Kult in Japan bereits auf die Heian-Zeit (794–1185) zurück.
Jizō übernimmt im japanischen Buddhismus mehrere Funktionen: er ist der Beschützer der Reisenden und Kinder und ebenso der Begleiter ins Totenreich. Die Darstellungsarten als Figur reichen von groben Umrissen bis hin zu filigran ausgearbeiteten Statuen mit Kindern auf dem Arm oder von solchen umringt. Häufig trägt er in der rechten Hand einen Pilgerstab und in der Linken ein Wunschjuwel. Ein weiteres Markenzeichen ist der kahle Kopf, eine Seltenheit bei der Darstellung eines Bodhisattvas.
Aufgeschichtete Steine und rote Lätzchen
Es ist quasi nicht möglich, Japan zu bereisen, ohne eine Vielzahl an Jizō-Statuen zu sehen. Meine erste Begegnung hatte ich beim ersten Mal innerhalb weniger Stunden nach meiner Ankunft. Man findet sie am Wegesrand, an buddhistischen Tempeln, aber auch shintoistischen Schreinen, Friedhöfen und…eigentlich überall.
Dabei fallen sie vor allem dadurch auf, dass ihnen in den meisten Fällen Babylätzchen umgebunden wurden. Bei großen Ansammlungen, den sogenannten sentai jizō 千体地蔵 (dt. tausend Jizō), gerne rot und im selben Design. Das Bild der Woche zeigt einen kleinen Ausschnitt hunderter Figuren am Hase-dera Tempel in Kamakura. Herzzerreißend empfinde ich jene, die individuelle Lätzchen oder Mützen tragen. Auf den ersten Blick wird klar, dass hier Eltern der Statue Kleidungsstücke eines verstorbenen Babys überlassen haben. Aber wozu?
Der Grund ist eng verknüpft mit den kleinen aufgetürmten Steinhaufen, die dir ebenfalls in Japan überall und natürlich ganz besonders in der Nähe von Jizō-Statuen begegnen. Denn Buddhisten glauben daran, dass verstorbene Kinder zwar zu jung sind, um Schlechtes begangen zu haben, und deshalb nicht in die Hölle kommen, doch ins Totenreich gehen sie auch nicht sofort ein. Stattdessen müssen sie am Fluss Sanzu 三途の川 darauf warten, bis niemand mehr um sie trauert. Dabei errichten sie ein Steinhäufchen nach dem anderen. Ihre einzige Hoffnung besteht darin, dass Jizō sie findet und über den Fluß bringt, damit sie ihren Frieden finden können.
Um den Kindern ihre Arbeit zu erleichtern, schichten Japaner auch im Diesseits flache Steine aufeinander. Und geben Jizō ein Lätzchen als Indiz an die Hand, durch das er das verstorbene Kind leichter finden soll, um es zu erlösen.
Historischer Kindsmord und Abtreibung in Japan – mabiki-ko und mizu-ko
Somit erfüllt Jizō eine wichtige Rolle bei der Trauerbewältigung betroffener Eltern. Leider ist die Anzahl dieser in Japan besonders hoch.
Zum einen gab es früher die Praxis sowohl unerwünschte Mädchen als auch Jungen, die nach dem ersten Sohn geboren wurden, „zurückzuschicken“. Sie wurden nach der Geburt getötet. Diese Kinder nannte man mabiki-ko 間引き, ausgedünnte Kinder. Der Mutter gestand man eine Trauerzeit von sieben Tag zu. Danach musste alles, was sie von ihrem Baby besaß, an Jizō übergeben werden und die Frau zurück zur Feldarbeit.
Solch barbarische Verfahren gibt es heute nicht mehr, dennoch hat Japan eine sehr hohe Anzahl an mizu-ko 水子 – Wasserkindern. Dieser Begriff umfasst Tot- und Fehlgeburten, sowie abgetriebene Kinder. Vor allem letzteres stößt bei der Betrachtung von außen auf Japan immer wieder auf Unverständnis. Neben Kondomen sind Abtreibungen eines der häufigsten Mittel der Geburtenkontrolle.
In den 1950er Jahren noch über 40 %, lag die offizielle Abtreibungsrate im Jahr 2018 in Japan bei 14,97 %. Im Vergleich beweget sie sie damit nicht sehr weit über Deutschland (2018: 11,37 %), doch die Zahlen täuschen, da es eine weit größere Dunkelziffer gibt. So werden zum Beispiel viele Schwangerschaftsabbrüche aus Steuergründen von den Ärzten nicht gemeldet.
Die Pille spielt in Japan nur eine verschwindend geringe Rolle. Bis 1999 war sie verboten, davor hatte die Lobby der Abtreibungsärzte die Oberhand. Ebenso befürchtete man eine Zunahme an Geschlechtskrankheiten, sollte die Pille als Verhütungsmittel Kondome vom Markt verdrängen. Bis heute werden die Kosten nicht von der Krankenkasse übernommen und müssen von den Frauen selbst getragen werden.
Trauerarbeit mit Jizō
Möchten Japaner im Fall eines verlorenen Kindes Trauerarbeit leisten, ermöglichen dies spezielle Riten am Tempel, die sogenannten mizuko kuyō 水子供養. Dabei werden Mantras gelesen, Opfer in Form von Speisen, Getränken, Blumen und Räucherstäbchen dargebracht und diverse Buddhas und Bodhisattvas um Hilfe gebeten. Allen voran Jizō. Gegen eine Gebühr wird eine Figur von ihm auf dem Tempelgelände aufgestellt.
Diese Praxis stößt oft auf die Kritik, dass es sich um Geldmache handle. Die Tempel entgegnen, sie kämen der Wünsche der Eltern entgegen.
Der Anblick einer Jizō-Figur ist aber nicht immer Anlass zur Trauer. Auch wenn Jizō in seiner Funktion als Beschützer der Kinder geholfen hat, eines vor einem Unfall oder einer Krankheit zu bewahren, kommt es vor, dass ihm zum Dank eine Statue aufgestellt wird.
Was hat Jizō mit Super Mario zu tun?
Wie sehr Jizō Bestandteil der alltäglichen japanischen Kultur ist, zeigt die Tatsache, dass er es sogar geschafft hat, Bestandteil der Super-Mario-Reihe zu werden. Kinder der 80er wie ich es bin (oder spätere Generationen, die sich ein Nintendo Classic Mini NES* gegönnt haben) sind dem Schutzpatron der Kinder und Reisenden in Super Mario Bros. 3 das erste Mal begegnet.
Trägt Mario seinen Tanuki-Anzug, der bei uns fälschlicherweise meist als Waschbär-Anzug interpretiert wurde, hat er die Möglichkeit, sich für fünf Sekunden in Stein zu verwandeln. Nun ist es wahrscheinlich nicht schwierig zu erraten, dass er sich in Statuenform zu nichts geringerem als einer Jizō-Mario-Figur verwandelt. In späteren Versionen sogar mit einem roten Halstuch.
Jizō ist einfach überall.
Quellen und weiterführende Links
https://www.univie.ac.at/rel_jap/an/Ikonographie/Jizo
Infanticide in Japan: Sign of the Times? – The New York Times
Abortion still key birth control | The Japan Times
Historical abortion statistics, Japan
Historical abortion statistics, Germany
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Liebe Elisa,
für meine bevorstehende Kunstausstellungen würde ich gerne die Figur jizo erklären und in der Beschreibung auf Mario Bros 3 verweisen mit der Verwandlung. Meine Frage…dürfte ich hierfür ihr Bild zur Erklärung auf einer Tafel verwenden? Die künstlerische Arbeit handelt von Fehlgeburten.
Vielen Dank für Ihre Rückmeldung und gratuliere zu diesem großartigen Artikel.
Doris
Liebe Doris,
ich habe dir eine E-Mail geschrieben.
Viele Grüße
Elisa
Hallo, können Sie mir einen Tipp geben, wo ich einen Bildband mit Beschreibungen zu den Jizō Statuen finden kann? Vielen Dank und beste Grüße von Christiane
Hallo Christiane,
leider ist mir so etwas bisher noch nicht untergekommen.
Liebe Elisa,
Vielen Dank für den interessanten Artikel.
Ich bin auf der Suche nach einem klassischen japanischen Gedicht oder einer klassischen Geschichte, gerne historisch zu den Wasserkindern, ggf. etwas wie ein Märchen oder eine Sage.
Hast du einen Tipp dazu, vielleicht auch, wo ich suchen könnte?
Herzlichen Dank im Voraus und
Beste Grüße
Hans
Hallo Hans,
leider habe ich nicht direkt einen Link für dich, aber du kannst mal nach dem Begriff „Mizuko kuyō“ suchen. Vielleicht wirst du dann fündig.
Viele Grüße,
Elisa
Hallo Elisa, vielen Dank für die ausführlichen und aufschlussreichen Erläuterungen zu den Jizō-Figuren, die auch mir in Japan in den Tempeln begegnet sind. Entsprechen auch die einfachen roten Tücher bei vielen Jizõ den Lätzchen, oder haben sie eine andere Bedeutung? Viele Grüße aus Deutschland
Hallo Bernhard,
es freut mich, wenn mein Artikel dir geholfen hat, den Hintergrund der Statuen besser zu verstehen. Ich weiß leider nicht ganz genau, was du mit roten Tüchern meinst. Aber ich schätze es geht um die standardisierten roten Lätzchen. Diese haben die gleiche Bedeutung. Echte Babylätzchen sieht man tatsächlich eher selten im Vergleich.
Alles Liebe, Elisa