Kaum eine Geschichte ist im japanischen Volksglauben so bekannt wie die vom Pfirsichjungen Momotarō. Ein älteres Ehepaar findet ein Kind in einem großen Pfirsich, der zum Helden wird und sein Dorf von Tyrannei durch Oger befreit. Vermutlich entstanden in der Muromachi-Zeit (1392–1573) durchläuft das Märchen seither ein paar kuriose Wandlungen. Seit den ersten schriftlichen Versionen Ende des 17. Jahrhunderts lassen sich diese gut nachvollziehen. Und zeigen, dass die Geschichte gern instrumentalisiert wurde: teils für Propaganda, teils für den Tourismus.
Das Märchen von Momotarō
Ein älteres Ehepaar war kinderlos geblieben. Oger (jap.: oni 鬼) terrorisierten die Gegend und die Menschen litten an Hunger. Entsprechend groß war die Freude der Frau, als sie eines Tages beim Waschen der Kleider im Fluss einen riesigen Pfirsich aus dem Wasser fischte. Zu Hause wollten die Eheleute die Frucht essen, doch aus deren Mitte sprang ein kleiner Junge, den sie Momotarō 桃太郎 nannten (momo 桃 dt. „Pfirsich“, tarō 太朗 dt. „ältester Sohn“) und wie ihr eigenes Kind großzogen.
Als Momotarō alt genug war, beschloss er loszuziehen und den Ogern den Gar auszumachen. Als Proviant für die Reise gaben ihm seine Eltern Hirsebällchen (kibidango 黍団子) mit auf den Weg. Unterwegs trifft Momotarō auf drei hungrige Tiere: einen Hund, einen Fasan und einen Affen. Allen dreien gibt er von seinen kibidango zu essen, woraufhin sie sich ihm anschließen. Gemeinsam erreichen sie die Insel der Oger.
Da die Tiere durch die Hirsebällchen gestärkt sind und Momotarō übermenschliche Kräfte hat, gelingt es ihnen gemeinsam, die Oger zu besiegen. Diese bitten um Gnade und Momotarō verschont ihr Leben. Bepackt mit allen Schätzen, die er in der Höhle der Oger gefunden hat, kehrt er in sein Dorf zurück und wird als Held gefeiert.
Eine Kindergeschichte wird als Propaganda instrumentalisiert
Wie alle Märchen veränderte sich die Geschichte von Momotarō im Laufe der Jahrhunderte. In frühen Versionen wurde der Junge zum Beispiel von der Frau selbst geboren, nachdem sie von einem Pfirsich gegessen hatte, der sie verjüngte. Erst in späteren Versionen erschien Monomatrō aus dem essbaren Fundstück.
Neben solch natürlichen Veränderungen gab es auch gezielte. Als Teil des Schulunterrichts wurde ab der Meiji-Zeit die Heldenstory entsprechend der aktuellen politischen Situation angepasst. So war manchmal in der Geschichte enthalten, welch Schandtaten die Oger begangen hatten, wodurch nachvollziehbar wurde, warum Momotarō auszog, sie zu besiegen. Zu anderen Zeiten fiel dieser Teil weg und die Oger wurden allein durch ihre Andersartigkeit zur Zielscheibe.
Mit Beginn des ersten Sino-japanischen Kriegs (1894–1895) wandelte sich der Pfirsichjunge zu einem jungen Soldaten. Zur Zeit des Russisch-japanischen Kriegs (1904–1905) symbolisierten die Oger den russischen Feind, später während dem Zweiten Weltkrieg die US-Truppen. Momotarō übernahm oft eine Rolle in Comics und Filmen und wurden zu Zwecken der Kriegspropaganda instrumentalisiert. (Ganz ähnlich geschah dies übrigens in Deutschland unter dem NS-Regime mit klassischen Märchen.)
Momotarō als animierter Kriegsheld für die junge Generation
Der ersten beiden abendfüllenden Anime entstanden in den 1940er Jahren und machten sich den Pfirsichjungen und seine tierischen Freunde als Zugang zur jungen Generation zunutze. Vor allem Musik- und Mitsing-Szenen sollten die Botschaften in den jungen Köpfen verankern. Als Inspiration zeigte man Regisseur Mitsuyo Seo vorab Disneys „Fantasia“.
„Momotarōs Seeadler“ (Momotarō no umiwashi 桃太郎の海鷲, 1943) thematisiert den Angriff auf Pearl Harbor – die Amerikaner und Briten nehmen die Rolle der Oger ein – und verwendete sogar Originalfilmaufnahmen des Bombardements.
Dieser Zeichentrick war so erfolgreich, dass man eine Fortsetzung bestellte. „Momotarō: Göttlicher Krieger des Meeres“ (Momotarō: umi no shinpei 桃太郎 海の神兵) dauerte 74 Minuten, behandelte die Befreiung Niederländisch-Indiens und kam 1945 ins Kino. Zu der Zeit war allerdings so viel der Infrastruktur in Japan zerstört, dass er keinem breiten Publikum mehr zugänglich gemacht werden konnte. Die Filmrollen wurden nach Kriegsende zerstört. Nur eine Kopie tauchte 1983 wieder auf, wodurch der Film heute eine gewisse Bekanntheit erreicht hat.
Einflussreich war er allemal für die Anime-Industrie. Nicht nur hatte man bewiesen, dass auch Japan Trickfilme in Spielfilmlänge produzieren konnte. Auch der „Gottvater des Manga und Anime“ Tesamu Ozuka war durch die Momotarō-Streifen als Jugendlicher dazu inspiriert worden, ins Comic-Business zu gehen.
Okayama macht sich die kibidango zu eigen
Gleich mehrer Orte in Japan beanspruchen für sich, der Ursprung der Momotarō-Legende zu sein. Allen voran Okayama, Inuyama in der Präfektur Aichi und Kinashi in der Präfektur Takamatsu. Okayama hat sich dabei unter anderem eines sprachlichen Tricks bedient.
So lautet der alte Name der Region „Königreich Kibi“ (kibi no kuni 吉備国). Erinnerst du dich an Momotarōs Hirsebällchen? Das japanische Wort für Hirse lautet kibi 黍. Es wird mit einem anderen Schriftzeichen geschrieben, doch die Aussprache ist gleich. So wurden aus den „Hirse“-Bällchen also „Kibi-als-Ortsbezeichnungs“-Bällchen. Im Japanischen jeweils kibidango.
Die kibidango aus Okayama haben neben dem Namen und der Kugelform sonst nicht mehr viel gemein mit den ursprünglichen Hirsebällchen. Es handelt sich um eine Süßspeise aus Reismehl, Stärke, Sirup und Zucker. Das Getreide verschwand Stück für Stück aus dem Rezept.
Zur Entstehung gibt es mehrer Theorien und Behauptungen. Fest steht, dass Momotarō früh als Werbefigur für die Süßigkeit benutzt wurde. Bereits in den 1890er Jahren hatte ein Verkäufer der kibidango großen Erfolg damit, sich selbst als Momotarō und seine Mitarbeiter als Oger zu verkleiden.
Aber nicht die kibidango allein machen Okayama heute zum Momotarō-Hot-Spot Japans. Die grundlegende Idee, warum das Märchen vom Pfirsischjungen in der Gegend spielen soll, stammt von der Tatsache, dass unweit der Präfekturhauptstadt im Kibitsu-Schrein Kibitsu-hiko-no-mikoto als Gottheit verehrt wird. Der Legende nach ein Prinz, der einst einen Oger namens „Ura“ umbrachte. Seit den 1930er Jahre wird diese vermeintliche Ursprungsgeschichte kräftig beworben, um die Präfektur für Touristen attraktiver zu machen.
Das Märchen von Momotarō begleitet seit Jahrhunderten jedes japanische Kind. Dabei wurde sie immer wieder abgewandelt und teils für eigennützige Zwecke missbraucht. Der Pfirsichjunge als Propagandafigur gehört der Vergangenheit an. Die Präfektur Okayama hingegen betreibt bis heute reges Marketing als Ursprungsregion der Legende. Was als Tourist großen Spaß macht, denn überall in und um Okayama begegnen dir der tapfere Junge aus dem Pfirsich und seine treuen, tierischen Begleiter. Das Beitragsbild ganz oben zeigt sogar eine ema-Wunschtafel mit Momotarōs Konterfei – na klar, am Kibitsu-Schrein.
Quellen und weiterführende Links
Spiegel: NS-Propaganda – Einmarsch ins Märchenreich
Wikipedia: Momotarō no Umiwashi
Wikipedia: Momotarō: Umi no Shimpei
Wikipedia: Kibidango (Okayama)
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