Nostalgische Kinoposter in Yufuin.

Japans Geschichtenerzähler des frühen 20. Jahrhunderts

In Japan wird sie oft am Leben erhalten, die Nostalgie vergangener Zeiten. Da sehen Nudelsuppenrestaruants gern einmal aus, als wäre die Zeit vor über 50 Jahren stehen geblieben. Oder eine Straßenecke ist voller alter Werbeschilder, die Produkte anpreisen, die es größtenteils nicht mehr auf dem Markt gibt. In der kleinen Stadt Yufuin stehe ich plötzlich vor vielen alten Filmplakaten. Da sehen Männer ernst in die Kamera, während die Frauen um sie bangen. Japans Filmgeschichte blickt auf über 120 Jahre zurück. Und hatte in den ersten Jahrzehnten interessante Ausprägungen.

benshi – Filmerzähler

Der erste japanische Film lief 1899 und zeigte die Tänze von japanischen Geisha. Die Entscheidung ausgerechnet diese Thematik für ein erstes Screening zu verwenden war rein kommerzieller Natur: davor hatte man beobachtet, dass sich von allen Postkartenmotiven Geisha am besten verkauften. Danach wandte sich der japanische Film aber schnell auch künstlerischen Ansprüchen zu und zum Beispiel wurden traditionelle Theaterstücke auf die Leinwand gebracht.

Jedoch egal, ob japanischer oder ausländischer Film zu dieser Zeit, Ton gab es noch keinen. Dadurch entwickelte sich in Japan der Beruf des benshi (弁士) – des Filmerzählers. Die größtenteils männlichen benshi übernahmen mehrere Funktionen. Sie gaben vor dem zu zeigenden Film eine kurze Einführung, verliehen den Schauspielern ihre Stimme und kommentierten das Geschehen auf dem Screen. Vor allem bei westlichen Produktionen, die fürs japanische Publikum oft erklärungsbedürftig waren. Durch ihre Sicht auf die Dinge prägten sie auch das Bild vom Westen.

Kinosäle fassten in den 1920ern bis zu 1000 Leute. Umso wichtiger war es, dass ein benshi eine gute Stimme hatte, die er oder sie hörbar in den Raum transportieren konnte.

Tatsächlich war der Berufsstand so populär, dass sich die Einführung des Tonfilms in Japan dadurch um ein paar Jahre verzögerte.

Ein benshi, der sich indirekt als sehr prägend für die Zukunft des japanischen Films herausstellen sollte war Heigo Kurosawa, der ältere Bruder von Akira Kurosawa, welcher als Regisseur Weltrum erlangte. (Ich habe über drei seiner Filme meine Magisterarbeit geschrieben.) Heigo verlor durch das Aufkommen des Tonfilms seinen Job als benshi und begann letztendlich Selbstmord, eine Thematik, die Kurosawa immer wieder in seinen Filmen aufgriff.

kamishibai – Geschichtenerzähler ohne Film

Ein moderner „kamishibai“-Erzähler führt vor Kindern ein Stück am Kiyomizu Kannon-dō-Tempel in Tōkyō auf.
Ein moderner „kamishibai“-Erzähler führt vor Kindern ein Stück am Kiyomizu Kannon-dō-Tempel in Tōkyō auf.

Während der Zeit der Großen Depression in den 1930er Jahren und den kargen Nachkriegsjahren fehlte das Geld für Kino und Filmproduktion. Stattdessen entwickelte sich auf Tōkyōs Straßen eine ganz andere Kunst des Geschichtenerzählens, die völlig auf Strom verzichtete: das Papiertheater kamishibai (紙芝居).

Anknüpfend an die buddhistische Tradition der schriftunkundigen Bevölkerung religiöse Tugenden durch Schriftrollen nahe zu bringen, erzählten die kamishibai-Künstler ihre Geschichten mit Zeichnungen. Diese wurden in Holzrahmen präsentiert, die an eine kleine Bühne erinnerten. Zu einem Szenenwechsel wurde das vorderste Bild herausgenommen und das nächste erschien.

Zielpublikum waren vor allem Kinder. Das Hauptgeschäft bestand nämlich nicht im Erzählen der Geschichten, sondern darin den wissbegierigen, jungen Zuschauern bei der Vorstellung Süßigkeiten zu verkaufen.

Das kleine Papiertheater befand sich in der Regel auf einem Fahrrad, wodurch die Erzähler sich schnell von A nach B bewegen und ihre Story vielen Kindern präsentieren konnten. Oft erfanden sie Fortsetzungsgeschichten, um sich ihr Publikum durch einen Cliffhanger am Ende der jeweiligen Geschichte bereits für die nächste Vorstellung zu sichern.

Einige kamishibai-Künstler wie Shigeru Mizuki begannen nach Rückkehr des Bewegtfilms stattdessen Manga zu zeichnen und prägten diese Industrie maßgeblich mit.


Sowohl benshi als auch kamishibai waren Phänomene mit weitreichenden Auswirkungen auf die spätere, japanische Medienlandschaft. Während es kaum moderne benshi gibt, kann es durchaus vorkommen, dass du einem Papiertheater begegnest. Nicht oft, aber diese Form des Entertainments für Kinder hat sich gehalten.

Quellen und weiterführende Links

Wikipedia: Benshi (engl.)
Wikipedia: Kamishibai (engl.)
Psychocinematography: From hero to violator: An introduction to pre-war Jidai-geki cinema. (Part 1) (engl.)


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