Abends herrscht plötzlich Geschäftigkeit auf Fukuokas Straßen. Die ersten Salary Men machen sich auf den Heimweg aus dem Büro, ihr Magen knurrt, die trockene Kehle freut sich auf ein kühles Bier. Die Auswahl an Fast-Food-Restaurants in Japans Großstädten ist riesig und an jeder Ecke ermöglichen Convenience Stores das Einkaufen einer fertigen Lunchbox, die nach Belieben sogar im Geschäft schnell warm gemacht wird. Dennoch zieht es viele der Einheimischen an einen Imbiss-Stand, einen yatai 屋台. Zwischen sechs Uhr abends und vier Uhr morgens ist es circa 120 Betreibern in Fukuoka erlaubt, eine mobile Essensbude auf den Gehsteigen und an den Uferpromenaden der Stadt aufzubauen. Sie sind die letzten einer früher weit verbreiteten Art. Und waren maßgeblich an der heutigen Popularität von Ramen-Nudeln beteiligt.
Der Ursprung von Japans mobilen Imbissbuden
Mittelalter
Die ersten Ursprünge hatten Imbissbuden in Japan wohl im 6. und 7. Jahrhundert an buddhistischen Tempeln, um hungrige Pilger mit Essen zu versorgen. Einen ähnlichen Zweck erfüllten sie auch später zur Tokugawa-Zeit, nur dass es sich mittlerweile größtenteils um unfreiwillige „Pilger“ handelte. Um die Fürsten (daimyō 大名, dt.: „großer Name“) der einzelnen Provinzen beschäftigt und vor allem knapp bei Kasse zu halten, verlangte das Shogunat, dass alle daimyō einen zweiten Sitz in der Hauptstadt Edo – dem heutigen Tōkyō – zu unterhalten und die Hälfte ihrer Zeit zu bewohnen hatten. So zogen regelmäßig riesige Kolonnen bestehend aus einem Fürsten und dessen ganzen Haushalts (mit Ausnahme der Ehefrau, diese wurde als Geisel in Edo zurückgelassen) durch das Land. Auswärts essen war noch nicht üblich. Mobile Verkäufer wurden zu einer guten Quelle für eine schnelle Mahlzeit zwischendurch.
Auch in den Vergügungsviertel der großen Städte gewannen sie rasch an Beliebtheit. Das Wort yatai im modernen Sinn tauchte schriftlich zum ersten Mal im Jahr 1710 auf.
Vorkriegszeit
yatai bekamen in traditionellen Kreisen einen schlechten Ruf um die Jahrhundertwende. Im Zuge der Industrialisierung kam es zu einer Reisknappheit und daraus resultierenden Landflucht. Massen an Arbeitern mussten sich mit Essen versorgen, zu Hause fein säuberlich zubereitete Mahlzeiten gehörten für viele von ihnen der Vergangenheit an. Stattdessen bemühte man Imbissbuden für eine schnelle und praktische Gerichte. Intellektuelle fürchteten den Untergang der japanischen Esskultur.
Dieser blieb natürlich aus. Dennoch trug es nicht zum guten Ruf der Ess-Stände bei, dass viele von ihnen von Ausländern betrieben wurden. Zumeist stammten diese aus von Japan besetzten Gebieten wie Korea oder Taiwan. (Mein Lesetipp hierzu: „Ein einfaches Leben“ von Min Jin Lee* über das Leben einer koreanischen Familie in Japan) Ihrer Popularität bei Arbeitern tat dies dennoch keinen Abbruch.
Zweiter Weltkrieg und Besatzungszeit
Mit dem zweiten Weltkrieg wurden Lebensmittel rationiert und die Imbissbuden weitestgehend verboten. Diese Situation änderte sich auch nach Kriegsende nicht. Nahrungsmittel waren knapp. Vor allem Reis. 1945 zeichnete sich aus als das Jahr mit der schlechtesten Reisernte seit fast 50 Jahren. Die Rationen, die die amerikanischen Besatzer der japanischen Bevölkerung zugestanden, waren nicht gerade großzügig berechnet: pro Person waren 1042 Kalorien am Tag vorgesehen. Und das in einer Zeit des Wiederaufbaus, wo schwere körperliche Arbeit auf der Tagesordnung stand.
Also blühte der Schwarzmarkt, der unzählige fahrbare Essens-Stände beinhaltete. Ende 1945 gab es circa 45.000 illegale yatai in Japans Hauptstadt. 90% davon in den Händen der japanischen Mafia yakuza.
Diese Imbissbuden waren überlebenswichtig für die hungrigen Arbeiter und gleichzeitig eine Möglichkeit für Leute aus armen Verhältnissen finanziell aufzusteigen. Dementsprechend explodierte der Markt regelrecht. Ein Dorn im Auge der Polizei, die in den Jahren 1946 bis 1950 über 3 Millionen Verhaftungen vornahm.
Der Anfang des Ramen-Hypes
Dass heute viele Gerichte wie Udon, Ramen und Gyōza sich in Japan so großer Verbreitung und Beliebtheit erfreuen, hat seine Wurzeln in der Lebensmittelknappheit der Nachkriegszeit. Um den Reismangel auszugleichen, wurden durch die amerikanischen Besatzer große Mengen günstiger Weizen aus den USA importiert.
Gerichte aus Weizenmehl florierten, der Brotkonsum verdreifachte sich innerhalb weniger Jahre. Allem voran wurde das ursprünglich chinesische Nudelgericht Ramen zum Grundnahrungsmittel. Noch heute gehen einige der großen Tōkyōter Restaurants und Ketten auf yatai der Nachkriegszeit zurück.
Mit Ende der Besatzung endete auch das Verbot von fahrbaren Essens-Ständen. Dem Siegeszug von mobilen Ramen-Buden stand nichts mehr im Wege. Ganz im Gegenteil: manche Firmen spezialisierten sich sogar auf yatai-Starterkits, die es jedem aufstrebenden Koch ermöglichten, leicht ins Geschäft der Straßenverkäufer einzusteigen.
Die Olympischen Spiele machen den yatai ein Ende
Bis heute zeichnet yatai eines aus: Geselligkeit. Schulter an Schulter sitzen Unbekannte bei einer gemeinsamen Mahlzeit unter freiem Himmel, unterhalten sich und haben Spaß. Aus einem andern Blickwinkel betrachtet: sind laut und verursachen Müll.
So sah es auch die japanische Regierung und die Imbissbuden wurden im Vorfeld der Olympischen Spiele 1964 streng reglementiert. Sie verschwanden größtenteils aus dem Stadtbild japanischer Metropolen.
Ganz Japan ist von yatai geräumt. Ganz Japan? Nein, eine Stadt im Süden des Landes wehrt sich gegen die römische…ich meine natürliche japanische Herrschaft über ihre Essens-Stände.
Fukuoka erhält die yatai-Tradition
In Fukuoka auf Japans südlichsters Hauptinsel Kyūshū gründeten die yatai-Besitzer eine Gewerkschaft und wehrten sich gegen die neuen Bestimmungen. 400 Imbissbuden wurden so in der Region gerettet. Allerdings ebenfalls unter erschwerten Bedingungen. Die Zahl sank auf ein Viertel und ein Gesetz Mitte der 1990er Jahre drohte den Traditions-Ständen endgültig den Gar aus zu machen. Es besagte, dass eine yatai-Lizenz nur an einen direkten Nachkommen weitergegeben werden darf. Ist also keine junge Generation vorhanden, die Lust hat, sich ihren Lebensunterhalt mit einer Imbissbude zu verdienen, bedeutet dies das Ende für einen Stand.
In Kumamoto ist genau dies der Fall. Dort gibt es nur noch einen einzigen yatai, der von einer älteren Dame betrieben wird. Einen Nachfolger gibt es nicht. Beschließt die Besitzerin, ihre Arbeit niederzulegen, geht die Imbiss-Stand-Kultur in der Nachbarpräfektur von Fukuoka zu Ende.
Um diesen Schicksal zu entgehen, hat die Stadtverwaltung in Fukuoka beschlossen, die Regeln zu lockern und die mobilen Verkaufsstände als Teil ihrer Kultur zu fördern. So wurden die letzten Jahre einige neue Lizenzen vergeben. Darunter eine an einen in Japan lebenden Franzosen, der die französische Küche auf die wenigen Quadratmeter eines fahrbaren yatai bringt.
Die Zukunft der yatai
Fukuokas Essens-Stände erleben eine Zeit der starken Veränderung. Abgesehen von den schwindenden Betreiber-Zahlen hat auch das Publikum sich verändert. Neben einigen jungen Japanern, die gute Stände über Empfehlungen auf Sozialen Netzwerken entdecken, sind es mittlerweile größtenteils ausländische Touristen, die sich in die Schlangen vor den Buden einreihen, um ein paar Minuten echtes yatai-Flair zu erleben.
Recht viel länger kann man dort nämlich nicht verweilen. Ist die Mahlzeit verspeist, wird man freundlich aber bestimmt darauf hingewiesen, den Platz bitte für den nächsten wartenden Gast frei zu machen. Diese kurze Dauer reicht allerdings, um sich zuzuprosten und mit ein wenig Englisch, Japanisch und viel Händen und Füßen ins Gespräch zu kommen. Interkulturelle Kommunikation auf kleinstem Raum mit einer bewegten Geschichte.
Quellen und weiterführende Links
Atlas Obscura: The Illegal Ramen Vendors of Postwar Tokyo
Tofugu: How the Japanese Government is Killing Yatai Food Carts
BBC: Why street food is making a comeback in Japan
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Hallo,
interessanter Artikel, ich wusste nicht das diese Stände fast überall verboten waren, ich denke das sie auch heute noch ne Chance hätten, vor allem in Gegenden wo es nicht so viele Restaurants gibt, vielleicht lebt die Tradition ja auch anderswo wieder auf
Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass die Stände auch anderswo wieder gut angenommen würden. Wer weiß, sie halten sich ja schon tapfer seit Jahrhunderten :) Die Verkäufer kriegt man nicht so schnell klein.
Super Artikel wieder. Echt informativ und spannend ich hoffe auch das sich die Gesetze wieder lockern und man irgendwann wieder emhr dieser Buden sieht. In anderen ländern gibt es ja auch jede Menge solcher Stände und richtige Hypes darum um diese Streetfood´s.
Vielen Dank dir. Ich finde auch, dass Streetfood vor allem viel mit Asien zu tun hat und die Kultur bereichert. Allerdings verstehe ich auch, dass Lärm und Müll ein Problem für die Anwohner darstellen. Das lässt sich aber bestimmt durch gewisse Regelungen besser klären.
Das würde ich auch gerne mal versuchen;)
Interessanter Bericht (Ok, es hat was mit Essen zu tun – das interessiert mich immer!) und schön, dass es zumindest eine Stadt gibt, die die Tradition noch weiterführt.
So eine aussterbende Tradition habe ich, auch wenn es in Bayern ist und nur um Zutaten für Gerichte und nicht um fertige Gerichte geht, selbst miterleben können.
Vielleicht erinnerst Du Dich noch an die älteren Damen in fränkischer Tracht vor den Münchner Kaufhäusern, die Meerrettich, Kräuter und Gewürze verkauft haben?
Da war es auch so, dass die letzte irgendwann mal zu alt wurde um ständig nach München zu fahren (in den 1950ern sollen die „Kreeweibla“ sogar noch von Haus zu Haus gegangen sein) …
Zumindest gibt es in Hof in Bayern noch den traditionellen „Wörschtlamoo“, der Wienerla und andere Würstchen aus einem kleinen speziellen Wurstkessel verkauft.
Es regt sich was bei meinen Kindheitserinnerungen, aber konkret habe ich leider kein Kreeweibla vor Augen.
Bei den yatai finde ich es so bedauernswert, dass die Tradition keinen „natürlichen Tod“ stirbt sondern mehr oder weniger ausgerottet wird. Aber wer weiß. Noch sind nicht alle Imbissbuden vom Erdboden verschwunden und nach dem zweiten Weltkrieg hat sich gezeigt, dass die Tradition schnell wieder aufleben konnte. :)
Wie spannend! Ein bisschen von dieser Geschichte war mir schon aus dem Nissin Cup Noodles Museum bekannt, aber dass diese Ramen-Shops wegen einer bekloppten gesetzlichen Regelung vom Aussterben bedroht sind, ist ja echt krass. Hoffentlich öffnet Japan seine Grenzen wieder, bevor die letzten yatai verschwunden sind, ich will die auch noch sehen!!
Btw: Zwei der weiterführenden Links unter dem Beitrag funktionieren nicht, teste das doch noch mal…
Liebe Grüße
Jenny
Hi Jenny, tausend Dank für den Hinweis. Links habe ich gleich korrigiert. Die Artikel sind nämlich beide sehr lesenswert :)
Die gesetzlichen Regelungen wundern mich auch sehr. Immerhin ist Fukuoka wieder lockerer geworden und versucht nun, die Tradition zu erhalten. So haben wir hoffentlich die Chance, in näherer Zukunft mal an einem Stand zu sitzen und lecker Ramen zu schlürfen. :D