Für viele Jahrhunderte waren sich Shintoismus und Buddhismus in Japan sehr nahe. Die Religionen flossen ineinander über, Bräuche wurden vom jeweils anderen übernommen. Das macht für dich die Unterscheidung während einer Japanreise oft schwer. Ein paar wenige Indizien sprechen in der Regel (Ausnahmen bestätigen diese aber nur zu gerne) dennoch für die eine oder andere heilige Stätte. An buddhistischen Tempeln sind es Räucherstäbchen. An shintō-Schreinen deren ikonische Tore, die oft mit Reisstrohseilen geschmückt sind. Und weißen Zickzack-Streifen aus Papier. Ungewöhnlich! Und einzigartig. Deshalb erzähle ich dir heute etwas mehr darüber.
shide – Zickzack-Streifen
Bei den gefalteten Streifen handelt es sich um sogenannte shide. Auf Japanisch gibt es zwei Schreibweisen: 紙垂 („hängendes Papier“) und 四手 („vier Hände“). Erstere ist die Gängigere.
shide bezeichnet dabei erst einmal genau das: ein hängendes Stück Papier. Um es zu falten, gibt es mehrere Varianten. Auf dem Bild ganz oben erkennst du bei genauerem hinsehen den Shirakawa-Stil. Die simplere Variante ist der Yoshida-Stil. An Japans oberstem Heiligtum in Ise gibt es einen eigenen Faltstil, bei dem das Papier am Ende an ein umgedrehtes Ypsilon erinnert.
Sie bestanden traditionell aus Maulbeerbaum-Fasern, aber mittlerweile ist eher Papier das Material der Wahl.
Bedeutung der Zickzack-Streifen am Schrein
Es lässt sich nicht mehr genau zurückverfolgen, seit wann es shide genau gibt und welchen Zweck sie ursprünglich erfüllten. Eine Theorie basiert auf der Form der Streifen, die an Blitze erinnert. Somit könnten sie symbolisch an das Herabkommen der Götter erinnern. Ein weiterer Ansatz ist die Vermutung, dass Papier als Ersatz verwendet wurde für Kleidung und Stoffe, die an den Schrein gespendet wurden (ähnlich wie die ema-Votivtafeln statt lebendiger Pferde).
Heutzutage siehst du sie als Tourist am häufigsten eingeflochten in Reisstrohseile an Schreintoren und -gebäuden. Diese dienen dazu, die göttliche von der menschlichen Welt abzugrenzen. shide spielen aber auch eine wichtige Rolle bei der spirituellen Reinigung, einem der obersten Prinzipien des shintō.
gohei – Doppel-Zickzack-Papier
Eine besondere Form der shide sind die sogenannten gohei 御幣, bei denen ein Doppel-Zickzack-Streifen an einem Bambusstab befestigt wird. Ein gohei ist Teils eine Spende an einen Schrein, in anderen Fällen ein Objekt, dass einen Gott beherbergen kann. In jedem Schrein gibt es maximal ein gohei.
Die gohei-Variante der shide ist mir vor allem rund um den Fushimi Inari Taisha Schrein in Kyōto überall begegnet.
ōnusa – ein ganzes Bündel
Ganz nach dem Motto Viel hilft viel gibt es auch Gegenstände im shintō bei denen unzählige shide an einem Stab befestigt werden. Man spricht dann von ōnusa 大幣 („große Stoffspende“) oder haraegushi 祓串 („Austreibungsspieß“). Der erste Name deutet wieder auf die vermutliche Herkunft der shide hin, der Zweite auf den Zweck.
Mit einem ōnusa wird gereinigt und der Segen der Götter erbeten. Legst du deine Japanreise auf Neujahr, kann es gut sein, dass du siehst, wie ein solcher Stab mit vielen shide über den Köpfen von Schreinbesuchern geschüttelt werden. Auch wenn Japaner sich ein neues Auto gekauft haben, kann ein Priester darum gebeten werden, den Neuerwerb mit einem ōnusa zu segnen.
Liegst du dann abends nach einem langen Tag des Japanerkundens k.o. im Bett und schaltest den Fernseher ein, staunst du vielleicht nicht schlecht, schon wieder shide zu sehen. Zumindest wenn gerade sumō-Saison ist. Denn der traditionelle Sport ist rituell eng mit Japans indigener Religion verknüpft. Deshalb tragen die schwergewichtigen Kämpfer auch ein Zier-Reisstrohseil, an dem – du ahnst es schon – shide befestigt sind.
Was shintō und sumō aber genau miteinander zu tun haben, das erzähle ich dir ein andermal.
Quellen und weiterführende Links
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